Antidepressiva – Update zum Risiko intrakranieller Blutungen

Bereits seit längerem ist bekannt, dass es aufgrund einer Thrombozytenfunktionsstörung mit verminderter Aggregationsfähigkeit unter Antidepressiva mit Hemmung der Serotoninwiederaufnahme zum Auftreten einer verlängerten Blutungszeit und/oder Anzeichen einer Blutung kommen kann (s. Abschn. 1.5.4 im Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie).
In Bezug auf ein möglicherweise erhöhtes Risiko für intrakranielle Blutungen ergab eine neue retrospektive Fall-Kontroll-Studie, die 2017 in JAMA Neurology veröffentlicht wurde, wiederum ein erhöhtes Risiko für intrakranielle Blutungen in Abhängigkeit der Affinität der Antidepressiva zum Serotonintransporter [1]. Ein erhöhtes Risiko zeigte sich hier für Antidepressiva mit starker Affinität zum Serotonintransporter als Ausdruck einer ausgeprägten Hemmung der Serotoninwiederaufnahme im Vergleich zu Antidepressiva mit niedriger Affinität zum Serotonintransporter, insbesondere während des ersten Monats der Einnahme und im Fall einer Kombination mit oralen Antikoagulanzien.
In der Studie wurden anhand einer britischen Datenbank Krankenakten von 1,3 Millionen Patienten, die eine antidepressive Behandlung begonnen hatten, hinsichtlich des Auftretens einer intrakraniellen Blutung untersucht [1]. Während des Beobachtungszeitraums von durchschnittlich 5,8 Jahren erhielten 3036 Patienten die Diagnose einer intrakraniellen Blutung entsprechend einer Inzidenzrate von 3,8 pro 10.000 Personen pro Jahr. Diese wurden mit einer gematchten Kontrollgruppe von 89700 Patienten verglichen.

Ein Vergleich zwischen der Einnahme von SSRI und TZA ergab ein um 17% erhöhtes Risiko einer intrakraniellen Blutung unter SSRI im Vergleich zu TZA (RR 1,17; 95% CI 1,02-1,35). Dies entsprach einer absoluten Differenz von 6,7 Ereignissen pro 100.000 Personen pro Jahr. Das Risiko war am höchsten während der ersten 30 Tage der Einnahme. Eine Einteilung anhand der Affinität zum Serotonintransporter als Ausdruck für die Stärke der Hemmung der Serotoninwiederaufnahme ergab ein um 25% erhöhtes Risiko einer intrakraniellen Blutung für Antidepressiva mit starker Affinität zum Serotonintransporter (hier Clomipramin, Duloxetin, Fluoxetin, Paroxetin und Sertralin) im Vergleich zu denen mit niedriger Affinität zum Serotonintransporter (neben anderen Agomelatin, Desipramin, Doxepin, Mirtazapin, Moclobemid, Nortriptylin, Reboxetin, Trimipramin und Tranylcypromin) (RR 1,25; 95% CI 1,01-1,54). Dies entsprach einer absoluten Differenz von 9,5 Ereignissen pro 100.000 Personen pro Jahr. Auch hier zeigte sich das Risiko für eine intrakranielle Blutung während der ersten 30 Tage der Einnahme besonders hoch. Eine zusätzliche Behandlung mit Antikoagulanzien ergab ein nochmals erhöhtes Risiko, welches allerdings nicht das Signifikanzniveau erreichte.

Zusammenfassung und klinische Konsequenzen

Entsprechend des zugrundliegenden pathophysiologischen Mechanismus führen Antidepressiva mit Hemmung der Serotoninwiederaufnahme (SSRI, SNRI oder SRI) in Thrombozyten zu einer Funktionsstörung mit verminderter Aggregationsfähigkeit und damit ggf. zu einer verlängerten Blutungszeit und/ oder Anzeichen einer Blutung. In Bezug auf gastrointestinale Blutungen zeigt sich ein erhöhtes Risiko vergleichbar demjenigen unter Thrombozytenaggregationshemmern wie z.B. Acetylsalicylsäure (s. Abschn. 1.5.4 im Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie). In Bezug auf spontane intrakranielle Blutungen scheint bei teils widersprüchlicher Studienlage insbesondere für Antidepressiva mit starker Hemmung der Serotoninwiederaufnahme ebenfalls ein geringfügig erhöhtes Risiko zu bestehen.
Das in der aktuellen Studie für Antidepressiva mit starker Hemmung der Serotoninwiederaufnahme gefundene erhöhte Risiko für intrakranielle Blutungen entspricht dem Ergebnis einer viel diskutierten, 2012 publizierten Metaanalyse von Beobachtungsstudien [2], in der sich unter SSRI im Vergleich zu einer Nichteinnahme ein relatives Risiko von 1,51 für eine intrakranielle Blutung bzw. 1,42 für eine intrazerebrale Blutung ergab. Die absolute Risikoerhöhung für zerebrale Blutungen unter SSRI erwies sich in dieser Studie entsprechend der Studie von Renoux et al. jedoch ebenfalls als niedrig und wurde mit 1 pro 10.000 Personen pro Jahr angegeben [2]. Zum Vergleich findet sich für Acetylsalicylsäure (ASS) ein relatives Risiko (RR) von 1,84 (95%CI 1,24-2,74) [3] und eine absolute Risikoerhöhung von 2 pro 10.000 Personen pro Jahr [4] für das Auftreten einer intrakraniellen Blutung. In RCT zum Einsatz von SSRI bei Patienten nach Schlaganfall als eine Patientengruppe mit erhöhtem Blutungsrisiko zeigte sich bislang kein erhöhtes Risiko für intrakranielle Blutungen. Auch ergab sich in einer kürzlich publizierten Studie nach einer Thrombolyse bei ischämischen Schlaganfall für Patienten, die mit SSRI behandelt wurden, kein erhöhtes Risiko für intrazerebrale Hämorrhagien, wohl aber für Patienten unter einer kombinierten Behandlung mit SSRI und Antikoagulanzien [5].
Auch wenn das Auftreten intrakranieller Blutungen eine seltene Komplikation darstellt und die absolute Risikoerhöhung durch Antidepressiva mit starker Hemmung der Serotoninwiederaufnahme niedrig ist, unterstreicht die neue Studie von Renoux et al. 2017 das potentielle Risiko intrakranieller Blutungen insbesondere für Patienten mit einem erhöhten Risiko für Blutungskomplikationen z.B. aufgrund der Einnahme von Antikoagulanzien.

Daher sollte entsprechend den Empfehlungen im Kompendium im Falle eines erhöhten Risikos für Blutungskomplikationen geprüft werden, ob nicht die Gabe eines Antidepressivums mit geringer(er) oder fehlender relevanter Affinität zum Serotonintransporter vorzuziehen ist. Stellt die Gabe eines Antidepressivums mit fehlender oder geringer Serotoninwiederaufnahmehemmung unter Abwägung der Vor- und Nachteile im Einzelfall z.B. aufgrund von Nebenwirkungen oder fehlender Wirksamkeit keine Alternative dar, sollte das erhöhte Risiko für intrakranielle Blutungen einer Behandlung auch mit einem Antidepressivum mit starker Hemmung der Serotoninwiederaufnahme jedoch nicht entgegenstehen (s. auch die weiteren Vorsichtsmaßnahmen im Abschn. 1.5.4. „Maßnahmen zur Risikoreduktion für Blutungskomplikationen unter Antidepressiva”).

Literatur

[1] Renoux C, Vahey S, Dell’Aniello S, Boivin JF. Association of Selective Serotonin Reuptake Inhibitors With the Risk for Spontaneous Intracranial Hemorrhage. JAMA Neurol. 2017 Feb 1;74(2):173-180.
[2] Hackam DG, Mrkobrada M. Selective serotonin reuptake inhibitors and brain hemorrhage: a meta-analysis. Neurology. 2012 Oct 30;79(18):1862-5
[3] He J, Whelton PK, Vu B, Klag MJ. Aspirin and risk of hemorrhagic stroke: a meta-analysis of randomized controlled trials. JAMA. 1998 Dec 9;280(22):1930-5.
[4] Gorelick PB, Weisman SM. Risk of hemorrhagic stroke with aspirin use: an update. Stroke. 2005 Aug;36(8):1801-7.
[5] Scheitz JF, Turc G, Kujala L, Polymeris AA, Heldner MR, Zonneveld TP, Erdur H, Curtze S, Traenka C, Brenière C, Wiest R, Rocco A, Sibolt G, Gensicke H, Endres M, Martinez-Majander N, Béjot Y, Nederkoorn PJ, Oppenheim C, Arnold M, Engelter ST, Strbian D, Nolte CH; TRISP Collaboration. Intracerebral Hemorrhage and Outcome After Thrombolysis in Stroke Patients Using Selective Serotonin-Reuptake Inhibitors. Stroke. 2017 Dec; 48(12):3239-3244.

Francesca Regen, Berlin [francesca.regen@charite.de]
Otto Benkert, Mainz [otto.benkert@t-online.de]

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