Cannabis – Potential und Risiken. Ergebnisse einer wissenschaftlichen Analyse (D. Hermann, F. Kiefer, ZI Mannheim)

Im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit wurden die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den Risiken des Cannabis- Freizeitkonsums und zu dem Potential von Cannabisarzneimitteln in einem systematischen Review zusammengefasst (1). Die Ergebnisse werden in einem Buch publiziert, das sich noch im Druck befindet (2). Ein Kurzbericht wurde bereits am 30.09.2017 vom BMG veröffentlicht. Ziel war eine objektive, valide und an der besten wissenschaftlichen Evidenz orientierte Bewertung der in den seit 2006 publizierten Daten. Die Literaturrecherche beinhaltete eine systematische Suche in den Datenbanken PubMed, Medline, PsycINFO, EMBASE und der Cochrane Data Base of Systematic Reviews. Eingeschlossene Arbeiten wurden auf ihre methodische Qualität geprüft, Mängel in der Güte und Risiken für einen Bias analysiert und ein Evidenzgrad für jede Studie vergeben. Basierend auf der Studienanzahl, Qualität und Konsistenz der Ergebnisse, wurde eine Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit der Ergebnisse nach CERQual vorgenommen. Bei der Datenanalyse wurden geschlechts- und altersspezifische Effekte dezidiert mituntersucht.

Ein differenziertes und gleichzeitig detailreiches Bild unterschiedlich ausgeprägter Risiken des Gebrauchs pflanzlicher und synthetischer Cannabinoide im Bereich der Somatik, Kognition, Abhängigkeitsentwicklung, psychischer Störungen (Angststörungen, Depressionen und Suizidalität, bipolare Störungen, Psychosen) sowie der sozialen Folgen (z.B. Bildungschancen, Fahrtüchtigkeit) wird aufgezeigt. Als besondere Risikofaktoren wurden u.a. der frühe Cannabiskonsumbeginn in der Adoleszenz, intensive Gebrauchsmuster sowie Co-Konsum von Tabak, identifiziert.

Im Bereich der medizinischen Anwendung von pflanzlichen, synthetischen und teilsynthetischen Cannabinoiden wurde ein Nutzen bei der Indikation „Übelkeit und Erbrechen bzw. Appetitstimulation“ bei Menschen mit chemotherapeutisch behandelter Krebserkrankung und HIV/AIDS gefunden. Bei „chronischen Schmerzen“ liegen überwiegend Belege für eine leichte Schmerzreduktion und verschiedene Verbesserungen in Sekundärmaßen vor. Cannabisarzneimittel wurden in der Regel in Kombination mit Analgetika verabreicht. Die Daten sprechen derzeit eher nicht für eine substantielle Reduktion der Symptomatik. Bei „Spastizität bei Multipler Sklerose und Paraplegie“ liegen ebenfalls „subjektive“, jedoch nicht ausreichend objektivierbare Hinweise für eine Besserung der Symptomatik vor. Inkonsistente Ergebnisse bei meist unzureichender Studienlage finden sich ebenfalls im Bereich der gastrointestinalen, neuroinflammatorischen, neurologischen und psychischen Erkrankungen. Nebenwirkungen der Cannabisarzneimittel sind meist transient und nicht schwerwiegend.

Teil A) Risiken des Cannabiskonsums zum Freizeitgebrauch

Kognition: Akut konsumierte Cannabinoide können zu vielfältigen kognitiven Beeinträchtigungen führen. Eindeutige Einschränkungen finden sich in der Gedächtnisleistung, der Aufmerksamkeit und der Psychomotorik. Regelmäßiger und häufiger Cannabiskonsum führt zu globalen Defiziten der Kognition, insbesondere der Gedächtnisleistung, wobei das Bild dieser Einschränkungen nicht so einheitlich ist wie bei Akut-Effekten. Hinweise auf kognitive Einschränkungen, die auch noch nach längerer Abstinenz von Cannabis vorliegen (> 1 Monat) finden sich nur in Einzelstudien (z.B. bei Probanden mit frühem Konsumbeginn in der Adoleszenz).

Organische Folgen: Chronischer Cannabiskonsum erhöht das Risiko für respiratorische Symptome (Husten, keuchender Atem, Sputum Produktion, Engegefühle in der Brust). Akuter Cannabiskonsum führt zu einer Erweiterung der Blutgefäße, Bluthochdruck und beschleunigten Puls. Eine Risikobewertung der kardiovaskulären Effekte im Zusammenhang mit chronischem Cannabiskonsum kann aufgrund der unzureichenden Evidenz nicht erfolgen. Es zeigt sich ein signifikanter Zusammenhang des Hodenkrebsrisikos mit Cannabiskonsum. Für andere Krebserkrankungen können anhand der aktuellen Datenlage keine Schlussfolgerungen getroffen werden.
Fahrsicherheit: Durch akuten Cannabiskonsum erhöht sich das Verkehrsunfallrisiko (Faktor 1,25 bis 2,66).

Psychosoziale Folgen: Früher Beginn (< 15. Lebensjahr) und häufiger Cannabiskonsum in der frühen Adoleszenz sind mit geringerem Bildungserfolg assoziiert. Beeinträchtigungen im Bildungserfolg scheinen linear, negativ mit dem Alter des regelmäßigen Konsumbeginns zusammenzuhängen. Bezüglich Cannabis-assoziierter Auffälligkeiten im Sozialverhalten, der Straffälligkeit sowie der familiären, beruflichen und wirtschaftlichen Entwicklung liegen inkonsistente und zu wenige empirische Daten vor.

Affektive Störungen, Angststörungen und Suizidalität: Cannabiskonsum und Cannabisabhängigkeit erhöhen das Risiko für Angststörungen leicht (Faktor 1,3 bzw. 1,7). Nicht alle Einzelstudien belegen diesen Befund. Früher Konsumbeginn (< 16 Jahre), langjähriger, wöchentlicher Cannabisgebrauch und aktuelle Cannabisabhängigkeit erhöhen das Risiko für Angststörungen (Faktor 3,2). Das Risiko für Depressivität erhöht sich durch Cannabiskonsum leicht, in Abhängigkeit von der Intensität des Konsums (Faktor 1,3 bis 1,6). Dieser Befund zeigte sich auch in einer Studie bei Jugendlichen (12-18 Jahre alt). Das Risiko für Suizidgedanken wird durch Cannabiskonsum geringfügig erhöht. Nicht in allen Einzelstudien zeigt sich dieser Befund.

Psychotische Störungen: Cannabiskonsum kann das Risiko für psychotische Störungen (z.B. Wahnvorstellungen, Halluzinationen und Wahrnehmungsstörungen) erhöhen. Große Meta-Analysen zeigten, dass bei gelegentlichem Cannabiskonsum die Häufigkeit des Auftretens psychotischer Störungen um das 1,4 bis 2,0 fache, bei hoher Konsumintensität um das 2,0 bis 3,4-fache erhöht ist. Der Zeitpunkt der psychotischen Ersterkrankung verlagert sich gegenüber nicht-konsumierenden Personen um 2,7 Jahre vor. Cannabisgebrauch ist mit ungünstigen Verläufen der psychotischen Störungen (Rückfallquote, Krankenhaus-Verweildauer, stärkere Ausprägung der Positivsymptomatik) assoziiert.

Cannabismissbrauch und Abhängigkeit: In Deutschland haben 6,1% der Bevölkerung (18- bis 64-Jährige) in den letzten 12 Monaten Cannabis konsumiert. In der Gruppe der jungen Erwachsenen (15 bis 34 Jahre alt) lag der Anteil bei 13,3%. Cannabiskonsum kann zu einem Abhängigkeitssyndrom führen, das u.a. auch Toleranzentwicklung und Entzugssymptome einschließt, dies betrifft 0,5% der Bevölkerung. In Europa ist die Zahl der Personen, die erstmals eine Suchtbehandlung wegen cannabisassoziierten Problemen beginnen, von 43.000 im Jahr 2006 auf 76.000 im Jahr 2015 angestiegen. Epidemiologische Studien schätzen, dass etwa 9% aller Personen, die jemals Cannabis konsumiert haben, eine Abhängigkeit entwickeln. Cannabisabhängigkeit ist nicht mit erhöhter Mortalität durch akute Intoxikation verbunden.

Synthetische Cannabinoide zeigen ähnliche psychotrope Effekte wie pflanzliche Cannabinoide, wirken aber meist stärker. Häufigste Symptome einer Intoxikation durch synthetische Cannabinoide sind beschleunigter Puls („Herzrasen“), Ruhelosigkeit und Übelkeit/ Erbrechen, sowie ein erhöhtes Psychose-Risiko für vulnerable Personen. Der Konsum ist mit einem erhöhten Risiko einer notärztlich zu behandelnden Intoxikation verbunden. Schwere klinische Symptome (z.B. Infarkt, Nierenversagen, epileptischer Grand-Mal-Anfall, Psychose) sind eher selten, aber keine Einzelfälle. International wurden bislang 32 Todesfälle im Zusammenhang mit synthetischen Cannabinoiden registriert.

Teil B) Wirksamkeit, Verträglichkeit und Sicherheit von Cannabisarzneimitteln

Chronische Schmerzen: Cannabisarzneimittel waren Placebo teilweise in der Schmerzreduktion (um mindestens 30%) überlegen. Für eine substantielle Schmerzreduktion (um mindestens 50%) liegt derzeit keine Evidenz vor. Alle Übersichtsarbeiten finden weitere, sekundäre Wirksamkeitsbelege zugunsten der Cannabisarzneimittel (z.B. eine Reduktion der durchschnittlichen Schmerzintensität, einer größeren durchschnittlichen Schmerzreduktion oder einer starken oder sehr starken globalen Verbesserung). Dabei werden selten große Effekte beschrieben. Schwerwiegende Nebenwirkungen sind bei Cannabisarzneimittel-Gabe selten und nicht häufiger als bei Placebo-Gabe.

Spastizität: Für Cannabisarzneimittel konnte die Wirksamkeit bei Multipler Sklerose- und Paraplegie-assoziierter (Rückenmarksverletzungen) Spastizität mit objektivierbaren Prüfkriterien nicht belegt werden. Inkonsistente Belege liegen für eine subjektiv empfundene Wirkung vor. Vielfältige Zielparameter und eingesetzte Messinstrumente tragen zur Datenheterogenität bei.

Übelkeit und Erbrechen: Zur antiemetischen Wirkung von Cannabisarznei bei chemotherapeutisch-induzierter Übelkeit und Erbrechen liegen viele alte Studien mit schlechter oder unklarer methodischer Qualität vor. Aus diesen Studien ergibt sich für die Cannabisarzneimittel eine signifikant bessere antiemetische Wirkung im Vergleich zu Placebo sowie gegenüber konventionellen Antiemetika. Die Wirksamkeit scheint vergleichbar mit der von Ondansetron. Bei HIV/AIDS-Erkrankungen wurde eine leicht gewichtsstimulierende Wirkung von Cannabisarzneimitteln festgestellt. Bei palliativ-behandelten Krebs- und HIV/AIDS-Erkrankten können Einzelstudien eine leichte, aber gegenüber Placebogabe nicht signifikante Steigerung des Appetits sowie eine Verbesserung von Übelkeit und Erbrechen durch Cannabisarzneimittel feststellen.

Gastrointestinale Störungen: Bei Morbus Crohn und Reizdarmsyndrom konnte keine Verbesserung der primärem Beschwerden durch Cannabisarzneimittel gezeigt werden.

Neurodegenerative, neuroinflammatorische und andere neurologische Erkrankungen: Im Placebo-kontrollierten Vergleich verbesserten Cannabisarzneimittel Tremor und Blasenschwäche bei Multipler Sklerose nicht. Eine Studie mit Nabiximols zeigt mögliche Therapieerfolge auf spezifische Symptome der Blasenfunktion.

Chorea Huntington: In drei vorliegenden Studien war keine signifikante Wirksamkeit von Cannabisarzneimitteln (Nabilon, Nabiximols) nachweisbar.

Epilepsie: Die Behandlung mit Cannabidiol erbringt eine teilweise verbesserte Symptomatik bei therapieresistenten Epilepsie-Formen (3 ältere Studien), die Befunde sind jedoch heterogen.

Dystonie: Es zeigt sich keine Verbesserung nach 3-wöchiger Behandlung mit Cannabisarzneimitteln bei primär zervikaler Dystonie.

Morbus Parkinson: 3 von 4 Studien finden keine Verbesserung der Parkinson-Symptomatik oder der Levo-Dopa-induzierten Bewegungsstörungen/Dyskinesien bei begleitender Therapie mit Cannabisarzneimitteln. Eine RCT berichtet verringerte Dyskinesien unter Nabilon. Einzelbefunde zeigen spezifische Symptombesserungen (REM-Schlafstörungen, psychotische Störungen, subjektives Empfinden).

Psychische Erkrankungen: Es liegen einzelne randomisiert-kontrollierte Studien zur folgenden Indikationen vor: Demenz, Cannabisabhängigkeit, Opiatabhängigkeit, Schizophrenie und schizophrenieforme Psychosen, Soziale Phobie, Posttraumatische Belastungsstörungen, Anorexia Nervosa, Tourette Syndrom. Die Stichprobengrößen sind stets gering. Aufgrund der begrenzten Datenlage können noch keine Aussagen zur Wirksamkeit von Cannabisarzneimitteln getroffen werden.

Literatur
(1) https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/publikationen/drogen-und-sucht/details.html?bmg[pubid]=3104

(2) Hoch, E., Friemel, C.M., Schneider, M. (Hrsg.) (in press). Cannabis: Potential und Risiko. Ergebnisse einer wissenschaftlichen Analyse. Heidelberg. Springer.

D. Hermann und F. Kiefer, Mannheim; [falk.kiefer@zi-mannheim.de]

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