Milnacipran – auch in Deutschland als Antidepressivum erhältlich

Der Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) Milnacipran ist in Deutschland seit März 2016 zugelassen, in Österreich erfolgte die Zulassung bereits 1998. Als Antidepressivum ist Milnacipran in über 40 Ländern zugelassen, darunter Frankreich, Russland, Japan und Finnland, aber nicht in der Schweiz. Seit August 2016 ist Milnacipran zur Behandlung der Major Depression von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erstattungsfähig. In der Indikation Fibromyalgie-Syndrom (FMS) ist Milnacipran seit 2009 in den USA zugelassen (Palmer RH et al, 2010).

Pharmakodynamik

Milnacipran ist ein Razemat, bestehend aus den (1R,2S)- und (1S,2R)-Isomeren im Verhältnis 1:1. Die Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme werden etwa gleichstark gehemmt. Es besteht keine klinisch relevante Affinität zu α1-adrenergen, H1-histaminergen, dopaminergen, serotonergen oder muskarinischen cholinergen Rezeptoren (Hindmarch I et al. 2000).

Pharmakokinetik

Die orale Bioverfügbarkeit liegt bei > 85%; t½ = 5–8 h; Tmax = 2 h.
Der Metabolismus findet ohne Beteiligung des Cytochromsystems, bevorzugt durch Glukuronidierung, statt. Überwiegend wird Milnacipran renal (90%) eliminiert (Stahl SM et al. 2005). Als therapeutisch wirksame Plasmakonzentration werden 100–150 ng/ml angenommen (Hiemke C et al. 2011, 2012.)

Indikationen und Behandlungshinweise

Zugelassen ist Milnacipran zur Therapie der Episode einer Major Depression.

Vor und während der Behandlung mit Milnacipran sollte der Blutdruck und die Herzfrequenz gemessen werden.

Im Fall von Harnretention kann die Gabe eines alpha-1 Blockers (z.B. Tamsulosin) hilfreich sein.

Absetzsymptome sind auch unter Milnacipran zu beobachten (Fachinformation MILNAneuraX®, April 2016). Auch wenn diese möglicherweise nicht stark ausgeprägt und selbstlimitierend sind, wird eine schrittweise Dosisreduktion empfohlen.

Dosierung

Die Dosierung beträgt 100 mg/d in 2 Einzeldosen zu den Mahlzeiten (auch 150 mg werden als Erhaltungsdosis vertragen).

Nebenwirkungen

An unerwünschten Wirkungen finden sich sehr häufig Kopfschmerzen und Übelkeit sowie häufig Schwindel, Tremor, Migräne, Agitiertheit, Ängstlichkeit, Schlafstörungen, Schläfrigkeit, verstärktes Schwitzen, Juckreiz, Hautausschlag, Hitzewallungen, Schwierigkeiten beim Harnlassen, häufiges Harnlassen, Benommenheit, Empfindungsstörungen, Schmerzen der Skelettmuskulatur, Hypertonie, Tachykardie, Palpitationen, Mundtrockenheit, Obstipation, Diarrhoe, Dyspepsie, Erbrechen und sexuelle Funktionsstörungen (auch Hodenschmerzen).
Gelegentlich treten Panikattacken, Verwirrtheit, Wahnvorstellungen, Manie, Halluzinationen, verminderte Libido, Alpträume, Suizidgedanken, Hyperlipidämie, Gewichtsabnahme, Gedächtnisstörungen, Akathisie, Gleichgewichtsstörungen, Geschmacksstörungen, Synkopen, trockene Augen, Augenschmerzen, Mydriasis, Akkommodationsstörungen, verschwommenes Sehen, Sehstörungen, Tinnitus, Schwindel, Herzrhythmusstörungen, Schenkelblock, Extrasystolen, Hypotonie, Husten, Raynaud’sche Phänomene, Dyspnoe, trockene Nase, Kolitis, Gastritis, gastrointestinale Motilitätsstörungen, Bauchbeschwerden, erhöhte Leberwerte, Urtikaria, Dermatitis, Muskelrigidität, Myalgie, Harninkontinenz, Harnverhalten oder Menstruationsstörungen auf.
Selten werden ein SIADH, psychotische Störungen, Dyskinesien, Krampfanfälle, Angina pectoris, Hepatitis oder Lichtempfindlichkeitsreaktionen beobachtet.
In Einzelfällen kommen vor: Ekchymosen, Hyponatriämien, zentrales Serotoninsyndrom oder Stevens-Johnson-Syndrom.

Zu beachten ist auch unter Milnacipran wie bei allen Antidepressiva mit (selektiver) Hemmung der Serotoninwiederaufnahme die Alteration der Thrombozytenfunktion mit selten verlängerter Blutungszeit und/oder Anzeichen einer Blutung.

Kontraindikationen

Bei schwerer und instabiler KHK sowie schwer einstellbarer und unkontrollierter arterieller Hypertonie ist Milnacipran kontraindiziert.

Relative Kontraindikationen bestehen bei Prostatahypertrophie und anderen urogenitalen Störungen, Niereninsuffizienz, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, hohem intraokularem Druck, Engwinkelglaukom und erhöhter Anfallsbereitschaft.

Risikopopulationen

Herz: s. Interaktionen.
Leber: Da Milnacipran überwiegend renal eliminiert wird, besteht kaum ein Einfluss von Leberfunktionsstörungen auf die Pharmakokinetik. Dies ist ein Vorteil bei Lebererkrankungen gegenüber Arzneimitteln, die umfangreicher hepatisch metabolisiert werden. (Puozzo C et al. 1998)
Niere: Bei renaler Insuffizienz gibt es eine Clearance-Minderung (bei Einmalgaben schweregradabhängig um bis zu 2/3 des Ausgangswerts), daher Dosisreduktion; 25–50 mg/d.

Intoxikationen

Bei Intoxikationen ist mit Akzentuierung der oben genannten UAW zu rechnen. Weiter mit Bewusstseinsstörungen bis hin zum Koma, Hypertonie, Herzversagen.

Interaktionen

Keine Kombination mit MAOH.
Keine Kombination mit serotonergen AM, z. B. Triptanen, Tramadol, Fentanyl.
Vorsicht bei Kombination mit α- und ß-Sympathomimetika, die Kontrolle des Blutdrucks ist erforderlich. Vorsicht bei Anwendung von Adrenalin s.c. sowie am Zahnfleisch (Herzrhythmusstörungen möglich).
Unter Milanacipran kann sich die QTc-Zeit dosisabhägig höchstens marginal verlängern, sodass eine Kombination mit QTc-Zeit-verlängernden Arzneimitteln möglich ist (Periclou A et al, 2010).
Bei gleichzeitiger Thrombozytenaggregationshemmung oder Antikoagulation, dabei sind auch die neuen oralen Antikoagulanzien (NOAKs) mit einzubeziehen, ist auf verstärkte oder verlängerte Blutung zu achten. Ebenso ist zu beachten, dass bei Kombination von Milnacipran mit nichtsteroidalen Antiphlogistika wie bei den SSRI und den anderen SNRI ein erhöhtes Risiko für obere gastrointestinale Blutungen besteht (de Abajo FJ, 2008).

Bewertung

Milnacipran ist ein SNRI ohne pharmakokinetisches Interaktionspotenzial bei überwiegend renaler Elimination. Positiv evaluiert auch bei Fibromyalgiesyndrom, in den USA in dieser Indikation zugelassen. Keine anticholinergen NW oder Gewichtszunahme. Ein Monitoring von Blutdruck und Herzfrequenz wird empfohlen. Die kardialen Kontraindikationen sind zu beachten. Antidepressive Wirksamkeit vergleichbar mit SSRI und TZA (Cipriani A et al. 2009).

Literatur:

• de Abajo FJ, Risk of Upper Gastrointestinal Tract Bleeding Associated With Selective Serotonin Reuptake Inhibitors and Venlafaxine Therapy. Interaction with Nonsteroidal Anti-inflammatory Drugs and Effect of Acid-Suppressing Agents. Arch Gen Psychiatry. 2008;65(7):795-803.
• Cipriani A et al. Comparative efficacy and acceptability of 12 new-generation antidepressants:
a multiple-treatments meta-analysis. Lancet 2009; 373: 746–58
• Fachinformation MILNAneuraX®, Stand der Information April 2016
• Hayashi M et al. Effect of high-dose milnacipran in patients with depression. Neuropsychiatric Disease and Treatment 2007:3(5) 699–702.
• Hiemke C, Baumann P, Bergemann N et al (2011) AGNP consensus guidelines for therapeutic drug monitoring in psychiatry: update 2011. Pharmacopsychiatry 44:195–235
• Hiemke C et al. AGNP-Konsensus-Leitlinien für therapeutisches Drug-Monitoring in der Psychiatrie: Update 2011. Psychopharmakotherapie 2012;19:91–122.
• Hindmarch I et al. Pharmacodynamics of milnacipran in young and elderly volunteers. Clin Pharmacol, 2000; 49, 118–125.
• Huskey AM et al. Occurrence of Milnacipran-Associated Morbilliform Rash and Serotonin Toxicity. Ann Pharmacother 2013;47:e32.
• Kasper S et al. Milnacipran: a unique antidepressant? Neuropsychiatric Disease and Treatment 2010:6 (Suppl 1)
• Levine M et al. Cardiotoxicity and Serotonin Syndrome Complicating a Milnacipran Overdose. J. Med. Toxicol. Pubished onlinine 07 July 2011
• McIntyre RS et L. The efficacy of levomilnacipran ER across symptoms of major depressive disorder: a post hoc analysis of 5 randomized, double-blind, placebo-controlled trials. CNS Spectrums, page 1 of 8. Cambridge University Press 2016. Downloaded: 19 Jul 2016.
• Olié J-P et al. Milnacipran and venlafaxine at flexible doses (up to 200 mg/day) in the outpatient treatment of adults with moderate-to-severe major depressive disorder: a 24-week randomized, double-blind exploratory study. Neuropsychiatric Disease and Treatment 2010:6 71–79.
• Palmer RH et al. Milnacipran: a selective serotonin and norepinephrine dual reuptake inhibitor for the management of fibromyalgia. Ther Adv Musculoskel Dis (2010) 2(4) 201_220
• Periclou A et al, J Clin Pharmacol. Effects of milnacipran on cardiac repolarization in healthy participants. J Clin Pharmacol. 2010 Apr;50(4):422-33
• Puozzo C et al. Pharmacokinetics of milnacipran in liver impairment. Eur J Drug Metab Pharmacokinet. 1998 Apr-Jun;23(2):273-9.
• Sechtera D et al. A comparative study of milnacipran and paroxetine in outpatients with major depression. Journal of Affective Disorders 83 (2004) 233–236.
• Stahl SM et al. SNRIs: Their Pharmacology, Clinical Efficacy, and Tolerability in Comparison with Other Classes of Antidepressants. CNS Spectr. 2005;10(9):732-747
• Tignol J et al. Double blind study of the efficacy and safety of Milnacipran and Imipramine in elderly
patients wih major depressive episode. Acta Psychiatr scand. 1998: 97: 157-165
• Tsai Ching-Shu et al. Prevention of poststroke depression with milnacipran in patients with acute ischemic stroke: a double-blind randomized placebo-controlled trialInternational Clinical Psychopharmacology 2011, 26:263–267
• Yang JC et al. Milnacipran versus Sertraline in Major Depressive Disorder:A Double-Blind Randomized Comparative Study on the Treatment Effect and β-Adrenergic Receptor Responsiveness. Korean J Psychopharmacol 2003;14(4):387-396)

Gabriel Eckermann, Kaufbeuren, [eckermann.iapkf@online.de]
Christoph Hiemke, Mainz, [hiemke@mail.uni-mainz.de]
Francesca Regen, Berlin, [francesca.regen@charite.de]
Otto Benkert, Mainz, [otto.benkert@t-online.de]

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