Tabakentwöhnung mit Vareniclin – neue Befunde zur Bewertung psychischer Risiken

Vareniclin, wirksam als partieller Agonist am α4β2 nikotinergen Acetylcholinrezeptor (nAChR), steht in Deutschland seit 2007 unter dem Handelsnamen Champix zur Raucherentwöhnung zur Verfügung. Während die Wirksamkeit der Substanz in der Raucherentwöhnung mit einer mehr als verdoppelten Abstinenzwahrscheinlichkeit gegenüber der Placebobehandlung gesichert ist (Cochrane Summaries 2013), besteht der Verdacht auf Vareniclin-assoziierte psychiatrische Nebenwirkungen, z.B. Depression und Suizidalität (Ahmed et al. 2013; siehe auch Kompendium-News vom 16.01.2012).
Bezüglich der neuropsychischer Risiken liegen nun zwei neue Publikationen vor, die eine Neubewertung sinnvoll erscheinen lassen.

In der von Anthenelli et al. (2013) publizierten Studie wurden 525 Raucher/innen mit Abstinenzwunsch und einer Diagnose einer Depression (Major Depressive Disorder, MDD mit einzelner Episode oder rezidivierend, ohne psychotische Symptome nach DSM-IV) mit aktuell stabiler antidepressiver Behandlung oder zurückliegender Behandlung eingeschlossen. Suizidalität, Eigen- oder Fremdgefährdung waren Ausschlusskriterien. Es erfolgte eine doppelblind-placebokontrollierte Behandlung mit Vareniclin über 12 Wochen, gefolgt von einer 40-wöchigen Nachbeobachtungsperiode.

Bezüglich der Wirksamkeit zeigte sich die Vareniclinbehandlung der Plazebobehandlung zu beiden Endpunkten signifikant überlegen (kontinuierliche Abstinenz Wochen 9-12: 35,9% vs. 15,6%; Wochen 9-52: 20,3 vs. 10,4%).
In keiner der verwendeten Depressions-, Angst- und Suizidalitätsskalen (MADRS, HAM-A, SBQ-R, C-SSRS) zeigten sich signifikante Gruppenenterschiede und in keiner der Gruppen eine Verschlechterung der Symptomatik. Suizidalität (C-SSRS) während des Studienverlaufs trat bei bei 6% der Vareniclin- und 7,5% der Placebo-medizierten Patienten auf. Die häufigsten Nebenwirkungen unter Vareniclin- vs. Placebobehandlung waren: Übelkeit (27% vs 10,4%) und Kopfschmerz (16,8% vs 11,2%), abnormale Träume (11,3% vs 8,2%), Reizbarkeit (10,9% vs 8,2%) und Schlafstörung (10,4% vs 4,8%).
Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, das aufgrund der Studiendaten Vareniclin nutzbar auch für die Behandlung von Patienten mit stabil behandelter oder anamnestischer Depression sein kann. Dennoch sollten Kliniker „vigilant“ in der Behandlung von Rauchern mit „komplexeren psychiatrischen Symptomen“ bleiben.

Ergänzt werden diese Ergebnisse durch die Daten einer ebenfalls 2013 publizierten Metaanalyse siebzehn placebo-kontrollierter Studien (Gibbons und Mann, 2013) mit insgesamt über 8.000 Teilnehmern; 7.023 ohne und 1.004 mit vorbeschriebener psychischer Erkrankung. Während die Abstinenzraten unter Vareniclin im Vergleich zu Placebo signifikant erhöht waren, zeigte sich auch hier keine Assoziation mit dem Auftreten einer depressiven Verstimmung, Aggression, Agitation, suizidalen Gedanken und Suizidversuchen, unabhängig davon, ob eine anamnestische oder gegenwärtige psychische Erkrankung vorlag. Letztere hatten allerdings in beiden Gruppen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für psychiatrische Störungen während der Raucherentwöhnung.

Darüber hinaus berichten die Autoren von einer erweiterten Analyse einer Beobachtungsstudie von 35.000 Rauchern mit Vareniclin oder Nikotin-ersatzbehandlung in der Raucherentwöhnung. Sowohl in dem Gesamtsample als auch in dem Subsample mit komorbider psychiatrischer oder anderer Suchterkrankung war das Risiko für Angst, Depression und andere psychische Störungen innerhalb der ersten 60 Tage der Behandlung unter Vareniclin sogar eher vermindert. Weder in der Reanalyse der randomisierten placebo-kontrollierten Studien noch in der Kohortenstudie gab es einen Anhalt dafür, dass unter der Vareniclin-Behandlung psychiatrische Symptome mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit neu auftreten oder vorhandene Symptome unter Behandlung mit Vareniclin im Vergleich zur Placebobehandlung oder Nikotinersatzbehandlung zunahmen.

Klinische Konsequenzen

Die genannten neuen Befunde ergänzen die bereits vorliegenden Daten dahingehend, dass mit der Studie von Anthenelli et al. (2013) erstmals in einer prospektiven Untersuchung abstinenzwillige Raucher mit affektiver Komorbidität eingeschlossen worden sind; eine Population also, die aufgrund vorheriger Interpretationen eher als „Risikopopulation“ für eine Behandlung mit Vareniclin galt. Bei nachgewiesener Wirksamkeit in Richtung einer erhöhten Tabakabstinenz führte die Behandlung mit Vareniclin zu keinem erhöhten Risiko für das Auftreten oder die Zunahme affektiver Symptome. Die Daten von Gibbons und Mann (2013) bestätigen in Ihrem Fokus auf die retrospektive Analyse von Daten von Patienten mit psychiatrischer Komorbidität dieses Ergebnis. Es gilt zu bedenken, dass die Tabakentwöhnung generell mit einer in der Regel vorübergehenden und milden Symptomatik von Ängstlichkeit, Reizbarkeit, Konzentrationsstörung und depressiver Verstimmung einhergeht. Aus diesem Grunde müssen die möglichen Konsequenzen der Raucherentwöhnung bei einer vorliegenden psychischen Störung grundsätzlich Berücksichtigung finden; eine Raucherentwöhnung sollte eher nicht in Phasen instabiler psychischer Verfassung durchgeführt werden. Diese Risiken müssen dabei allerdings mit den gesundheitlichen Konsequenzen eines weiteren Tabakkonsums verglichen werden, um eine rationale Risikoabwägung vornehmen zu können. Die Evidenzlage für einen kausalen Zusammenhang zwischen Vareniclinbehandlung und dem Auftreten oder der Symptomverstärkung einer depressiven Verstimmung, Angst oder Suizidalität ist dagegen auf Basis der o.g. Studien schwächer geworden, solange eine instabile psychische Ausgangssymptomatik ausgeschlossen werden kann. In letzterem Fall sollte die Risikovertretbarkeit.einer Raucherentwöhnung grundsätzlich in Frage gestellt werden, unabhängig von der begleitenden Medikation mit Vareniclin. In der Gesamtschau aller Daten sollte vor der Nikotinentwöhnung eine stabile (oder stabil behandelte) affektive Ausgangssituation vorliegen und ein Monitoring zur Früherkennung von Symptomveränderungen erfolgen.

Falk Kiefer, Mannheim

Literatur:

Ahmed AI, Ali AN, Kramers C, Härmark LV, Burger DM, Verhoeven WM (2013) Neuropsychiatric adverse events of varenicline: a systematic review of published reports. J Clin Psychopharmacol. 33(1):55-62

Anthenelli RM, Morris C, Ramey TS, Dubrava SJ, Tsilkos K, Russ C, Yunis C (2013) Effects of varenicline on smoking cessation in adults with stably treated current or past major depression: a randomized trial. Ann Intern Med. 17;159(6):390-400.

Cochrane Summaries:http://summaries.cochrane.org/CD009329/medications-to-help-people-to-stop-smoking-an-overview-of-reviews; Published Online: May 31, 2013

Gibbons RD, Mann JJ (2013) Varenicline, smoking cessation, and neuropsychiatric adverse events. Am J Psychiatry 1;170(12):1460-7.

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