Guanfacin – Zulassung bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS

Die Retardformulierung von Guanfacin (Intuniv®) ist im Januar 2016 in Deutschland eingeführt worden. Dieses Präparat ist im Rahmen einer umfassenden therapeutischen Gesamtstrategie bei Kindern und Jugendlichen ab einem Alter von 6 Jahren mit ADHS zugelassen, wenn eine Behandlung mit Stimulanzien (Methylphenidat, Amphetamin) nicht in Frage kommt, unverträglich war oder sich als unwirksam erwiesen hat.
In den USA ist Guanfacin seit 2009, dort auch für Erwachsene, zugelassen, wobei es dort auch in Kombination mit einem Stimulanz angesetzt werden kann. Guanfacin ist nicht BtM-pflichtig.

Guanfacin wirkt als:
• selektiver alpha2A-adrenerger Rezeptoragonist
• modifiziert postsynaptisch die Noradrenalin-Übertragung
• moduliert die Signalübertragung und stärkt die funktionelle Konnektivität des neuronalen Netzwerks im präfrontalen Cortex

In Deutschland sind Dosen von 1-4 mg erhältlich. Die zugelassene Tageshöchstdosis liegt für Kinder von 6-12 Jahren (25kg Körpergewicht) bei 4mg, für Jugendliche von 13-17 Jahren bei max. 7mg. Die Einnahme ist morgens oder abends möglich. Eine fettreiche Mahlzeit führt zu einem Anstieg der Exposition. Die empfohlene Erhaltungsdosis liegt bei 0,05 bis 0,12 mg/kg/Tag bzw. zwischen 1 und 7 mg/Tag. Es konnte eine lineare Pharmakokinetik bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS (2–4 mg/d) nachgewiesen werden und Tmax beträgt ca. 5 h. Die Halbwertzeit der Elimination beträgt ca. 18 h.

Ausführlichere Informationen sind der Intuniv® Fachinformation zu entnehmen.

Die Wirksamkeit und das Nebenwirkungsprofil von Intuniv® wurde bei mehr als 2600 Patienten untersucht. Im Hinblick auf die Wirksamkeit von Kindern und Jugendlichen mit ADHS sind folgende vier Studien erwähnenswert:

Europäische Zulassungsstudie

10- bzw. 13-wöchige multizentrische, doppelblinde, randomisierte, placebokontrollierte Phase-III-Studie mit Kindern und Jugendlichen zur Wirksamkeit und Verträglichkeit (mit flexibler Dosisoptimierung und aktivem Referenzarm): In dieser Zulassungsstudie über die Dauer von 10 Wochen für Kinder im Alter von 6 bis 12 Jahren bzw. 13 Wochen für Jugendliche im Alter von 13 bis 17 Jahren, an der 338 Probanden anfänglich teilnahmen und 272 Probanden die Studie beendeten, wurden die Retardformulierung von Guanfacin, Placebo und als aktiver Referenzarm Atomoxetin untersucht. Die Studie war nicht auf einen Vergleich von Guanfacin und dem aktiven Referenzarm Atomoxetin angelegt. Das Studiendesign bestand zunächst aus einer 4- bzw. 7- wöchigen Dosisfindungsphase und anschließend aus einer 6-wöchigen Erhaltungsphase. Als primärer Untersuchungs-parameter wurde der ADHD-RS-IV Wert bei der Visite 15 im Vergleich zum Ausgangswert gewählt. Als sekundärer Untersuchungsparameter wurde der CGI-I Wert („very much improved“ oder „much improved“ galt als Verbesserung) herangezogen. Zusätzlich wurde noch der Weiss Functional Impairment Rating Scale-Parent Report (WFIRS-P) gemessen. Unter Guanfacin kam es im ADHD-RS-IV Wert zu einer signifikanten Verbesserung im Vergleich zu Placebo (-23.9 vs. -15.0), was einer Effektstärke von 0.76 entspricht. Beim CGI-I Wert kam es unter Guanfacin bei 67.9 % und unter Placebo bei 44.1 % der Probanden zu einer Verbesserung (p<0.001). Auch im WFIRS-P Gesamtwert war ein signifikanter Unterschied zwischen Guanfacin und Placebo zugunsten von Guanfacin zu verzeichnen. 77.2 % der Patienten, die mit Guanfacin behandelt wurden, hatten TEAEs, während in der Placebo-Gruppe 65.8 % TEAEs hatten. Die häufigsten Nebenwirkungen unter Guanfacin waren Somnolenz (43.9 %), Kopfschmerzen (26.3 %), Müdigkeit (25.4 %) und Bauchschmerzen (16.7 %). Es gab sowohl in der Guanfacin- als auch in der Placebo-Gruppe jeweils eine Synkope, die mit der Behandlung in Zusammenhang gebracht wurde (Hervas et al. 2014).

Nebenwirkungs-Findungsstudie

8-wöchige multizentrische, doppelblinde, randomisierte, placebokontrollierte Phase-III-Studie mit Kindern und Jugendlichen zur dosisabhängigen Wirksamkeit und Verträglichkeit (mit festgelegter Dosiseskalation): In dieser Studie mit 345 Kindern und Jugendlichen mit ADHS wurden 3 Behandlungsgruppen, die mit der Retardformulierung von Guanfacin in den fixen Dosierungen 2, 3 oder 4 mg/d behandelt wurden, untersucht. Als primärer Untersuchungsparameter wurde der ADHD-RS-IV Wert gewählt. Als sekundärer Untersuchungsparameter dienten: CGI-I, Parent’s Global Assessment, Conners’ Parent Rating Scale-Revised: Short Form und Conners’ Teacher Rating Scale-Revised: Short Form. In allen drei Behandlungsgruppen kam es zu einer signifikanten Verbesserung in allen angewandten Fragebögen. Die häufigsten Nebenwirkungen waren Kopfschmerzen, Müdigkeiten, Bauchschmerzen und Benommenheit/Schläfrigkeit (Biederman et al. 2008a).


24-monatige multizentrische, offene Phase-III-Erweiterungsstudie mit Kindern und Jugendlichen zur Langzeitsicherheit und -wirksamkeit (mit flexibler Dosisoptimierung): In dieser offenen Studie wurde bei 240 Kinder und Jugendliche mit ADHS die Langzeitsicherheit und -wirksamkeit der Guanfacin Retardformulierung mit flexibler Dosisoptimierung (zwischen 2 und 4 mg/d) untersucht. Die häufigsten Nebenwirkungen waren Somnolenz (30.4%), Kopfschmerzen (26.3%), Müdigkeit (14.2%) und Benommenheit/Schläfrigkeit (13.3%). Die meisten Nebenwirkungen waren vorübergehend. In der ADHD-RS-IV konnte eine signifikante Verbesserung für alle Dosierungen am Ende der Studie im Vergleich zu den Ausgangswerten gemessen werden (Biederman et al.2008b).

Morgens-Abends-Studie

8-wöchige multizentrische, doppelblinde, randomisierte, placebokontrollierte Phase-III-Studie mit Kindern zur Wirksamkeit und Verträglichkeit bei morgendlicher oder abendlicher Einnahme (mit flexibler Dosisoptimierung): In dieser Studie wurde bei 333 Kindern mit ADHS (6-12 Jahre) die Wirksamkeit und Verträglichkeit der Guanfacin Retardformulierung bei morgendlicher oder abendlicher Einnahme mit flexibler Dosisoptimierung (1-4 mg/d) untersucht. In der ADHD-RS-IV zeigte sich, dass sowohl die morgendlich als auch die abendliche Gabe zu einer signifikanten Verbesserung führte. Die zeitliche Gabe des Präparats hatte keinen Einfluss auf die Nebenwirkungen (Newcorn et al. 2013).

Klinische Konsequenz:
Die Guanfacin Retardformulierung ist ein neuer Ansatz für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit ADHS, da es das erste ADHS-Präparat ist, das primär postsynaptisch wirkt. Durch das Schließen der hyperpolarisations-aktivierten und durch cyklische Nukleotide-modulierten Kanäle wird eine bessere Signalübertragung erreicht. Es gibt keinen Eingriff in die Neurotransmitter-Exprimierung. Mit einer Wirkung ist innerhalb von 3 Wochen zu rechnen. Die Effektstärke in der europäischen Zulassungsstudie lag bei 0.76, was ungefähr mit der durchschnittlichen Effektstärke von Atomoxetin vergleichbar ist. Die Effektstärke von verzögert freisetzenden Stimulanzien ist ca. 0.5 höher. Die Medikamenteneinnahme kann morgens oder abends erfolgen, da der Plasmaspiegel bei morgendlicher oder abendlicher Gabe quasi identisch ist. Auftretende Nebenwirkungen können dadurch für jeden Patienten besser ausbalanciert werden. Das Präparat unterliegt nicht der BtM-Verordnung. Gemäß der Fachinformation sind sehr häufige Nebenwirkungen (≥1/10): Schläfrigkeit (Somnolenz), Kopfschmerzen, Sedierung, Bauchschmerzen, Ermüdung. In den Studien kam es durchschnittlich zu einer Verringerung des systolischen und diastolischen Blutdruckes um 2-3 mmHg und zu einer Reduktion der Herzfrequenz von 3 Schlägen/min.

Literatur:
Biederman J, Melmed RD, Patel A, McBurnett K, Konow J, Lyne A, Scherer N; SPD503 Study Group. A randomized, double-blind, placebo-controlled study of guanfacine extended release in children and adolescents with attention-deficit/hyperactivity disorder. Pediatrics 2008; 121: e73-84

Biederman J, Melmed RD, Patel A, McBurnett K, Donahue J, Lyne A. Long-term, open-label extension study of guanfacine extended release in children and adolescents with ADHD. CNS Spectr 2008b; 13: 1047–55

Intuniv Fachinformation September 2015: http://ec.europa.eu/health/documents/community-register/2015/20150917132789/anx_132789_de.pdf

Hervas A, Huss M, Johnson M, McNicholas F, van Stralen J, Sreckovic S, Lyne A, Bloomfield R, Sikirica V, Robertson B. Efficacy and safety of extended-release guanfacine hydrochloride in children and adolescents with attention-deficit/hyperactivity disorder: A randomized, controlled, Phase III trial. Eur Neuropsychopharmacol 2014; 24: 1861–72

Newcorn JH, Stein MA, Childress AC, Youcha S, White C, Enright G, Rubin J. Randomized, double-blind trial of guanfacine extended release in children with attention-deficit/ hyperactivity disorder: morning or evening administration. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 2013; 52: 921–30

Philip Heiser, Nordhausen/Freiburg [philip.heiser@uniklinik-freiburg.de]
Otto Benkert, Mainz [otto.benkert@t-online.de]

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