Nalmefen – als Alkoholtherapeutikum zugelassen und in Europa verfügbar

Die Europäische Arzneimittelbehörde hat am 25. Februar 2013 die Zulassung für Selincro® (Wikstoff: Nalmefen, Hersteller: Lundbeck) bei Alkoholabhängigkeit erteilt. Damit wurde erstmals ein Mittel zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit zugelassen, das nicht auf den Erhalt einer zuvor erreichten Abstinenz zielt, sondern die Reduktion der Trinkmenge unterstützt.
Die Marktzulassung basiert auf zwei randomisierten, doppelblind- placebokontrollierten Wirksamkeitsstudien mit insgesamt 1322 Patienten. Signifikante Verbesserungen ergaben sich bei Patienten, die mehr als 60 g Alkohol pro Tag (bei Frauen >40 g/Tag) konsumierten. Unter Nalmefen reduzierten die Studienteilnehmer den Alkoholkonsum innerhalb von sechs Monaten um durchschnittlich 60% (102 auf 44 g/Tag bzw. 113 auf 43 g/Tag; Mann et al. 2013, EMA 2013). Der selektive Opioidrezeptor-Ligand mit antagonistischer Wirkung an den µ- und δ-Rezeptoren sowie partiell agonistischen Effekten am κ-Rezeptor wurde „as needed“ eingenommen, also an Tagen, an denen ein erhöhter Alkoholkonsum vom Patienten erwartet wurde. In den Zulassungsstudien war dies an ca. 50% der Tage.

Der genaue Markteinführungstermin für Deutschland, Österreich und die Schweiz ist noch nicht bekannt; das Medikament kann aber aufgrund seiner EU-Zulassung und der Verfügbarkeit in Finnland, Polen, Norwegen und den baltischen Staaten jetzt über internationale Apotheken bezogen werden.

Nachfolgend sollen die wichtigsten Charakteristika von Nalmefen, angepasst an die Präsentation der Psychopharmaka im Präparateteil des Kompendiums, 9. Aufllage, vorgestellt werden.

Nalmefen

Mittel zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit

Selincro (Lundbeck)
Tbl. 20 mg (7, 14, 28, 42, 98 Tbl.)

Pharmakodynamik

• Nalmefen ist ein selektiver Opioid-Rezeptorligand mit antagonistischer Aktivität am μ- und δ-Rezeptor und mit partieller agonistischer Aktivität am κ-Rezeptor.
• In-vivo-Studien haben gezeigt, dass Nalmefen den Alkoholkonsum verringert, möglicherweise durch Modulierung mesolimbisch-mesokortikaler Funktionen.

Pharmakokinetik

• Nalmefen wird nach oraler Einmalgabe schnell resorbiert und erreicht eine maximale Plasmakonzentration (Cmax) nach ca. 1,5 h. Die absolute orale Bioverfügbarkeit von Nalmefen beträgt 41 %.
• Die durchschnittliche Plasmaproteinbindung von Nalmefen liegt bei ca. 30 %. Das geschätzte Verteilungsvolumen (Vd/F) beträgt ca. 3.200 l.
• Überwiegend renale Elimination; orale Clearance ca. 169 l/h, terminale Halbwertzeit ca. 12,5 Stunden.
• PET-Daten nach Einzelgabe und wiederholter Gabe von Nalmefen zeigen eine Rezeptor-Belegung von 94 % bis 100 % innerhalb von 3 h.

Indikationen und Behandlungshinweise

Reduktion des Alkoholkonsums bei erwachsenen Patienten mit Alkoholabhängigkeit
• deren Alkoholkonsum „sich auf einem hohen Risikoniveau befindet“ (>60 g/Tag für Männer; >40 g/Tag für Frauen),
• bei denen keine körperlichen Entzugserscheinungen vorliegen und für die keine sofortige Entgiftung erforderlich ist.
• Eine kontinuierliche psychosoziale Unterstützung, die auf Therapieadhärenz und eine Reduktion des Alkoholkonsums zielt, sollte die Behandlung begleiten.
• Nalmefen ist nicht für Patienten bestimmt, deren Therapieziel eine sofortige Abstinenz ist.

Dosierung

• Vor Beginn der Medikation sollte der Patient seinen Alkoholkonsum für etwa zwei Wochen dokumentieren. Erfolgt in dieser Zeit keine spontane Trinkmengenreduktion, sollte die Behandlung begonnen und ihre Notwendigkeit regelmäßig überprüft werden.
• Nalmefen soll nach Bedarf eingenommen werden: An jedem Tag, an dem der Patient das Risiko verspürt, Alkohol zu trinken, sollte möglichst 1-2 h vor dem voraussichtlichen Zeitpunkt des Alkoholkonsums eine Tablette eingenommen werden.
• Wenn der Patient bereits begonnen hat, Alkohol zu trinken, sollte sobald wie möglich eine Tablette eingenommen werden.
• Maximale Dosis: eine Tablette (20 mg) pro Tag.
• Anwendungsdauer auf Basis klinischer Daten: 6 bis 12 Monate.

Nebenwirkungen und Intoxikationen

Sehr Häufig/Häufig: Verminderter Appetit, Schlaflosigkeit, Schlafstörungen, Verwirrtheit, Ruhelosigkeit, verminderte Libido, Schwindel, Kopfschmerzen, Somnolenz, Tremor, Aufmerksamkeitsstörungen, Parästhesie, Hypoästhesie, Tachykardie, Palpationen, Übelkeit, Erbrechen, Trockener Mund, Hyperhidrose, Muskelspasmen, Ermüdung, Asthenie, Unwohlsein, Gefühl anomal, Gewicht erniedrigt.
Sonstige Nebenwirkungen:
In den klinischen Studien wurden Verwirrtheit und selten Halluzinationen und Dissoziation beobachtet. Die Mehrzahl dieser Reaktionen war leicht oder mittelschwer ausgeprägt, mit dem Behandlungsbeginn verbunden und von kurzer Dauer (wenige Stunden bis wenige Tage).

Intoxikationen:

große therapeutisch Breite. Studien mit hohen Dosen (2 Jahre 108 mg Nalmefen pro Tag; Einzeldosis von 450 mg Nalmefen) berichten keine pathologische Folgen. Die Behandlung einer Überdosierung sollte unter Beobachtung an der Symptomatik ausgerichtet werden.
Besondere Vorsichtsmassnahmen: Falls in einem Notfall Opioide benötigt werden, muss die Dosis stets individuell eingestellt werden. Falls ungewöhnlich hohe Dosen benötigt werden, ist eine engmaschige Beobachtung erforderlich. Nalmefen muss 1 Woche vor der voraussichtlichen Anwendung von Opioiden vorübergehend abgesetzt werden.

Kontraindikationen

• Behandlung mit Opioid-Analgetika.
• bestehende oder kurz zurückliegende Opioidabhängigkeit oder akute Opioid-Entzugssymptome.
• schwere Leber- (Child-Pugh-Klassifizierung) oder schwerer Nierenfunktionsstörung (eGFR < 30 ml/min pro 1,73 m2).
• in jüngster Vergangenheit aufgetretene akute Alkoholentzugserscheinungen (einschließlich Halluzinationen, Krampfanfällen und Delirium tremens).

Interaktionen

• Keine klinisch relevanten Wechselwirkungen mit Arzneimitteln, die über die häufigsten CYP450- und UGT-Enzyme oder Membrantransporter metabolisiert werden.
• Bei gleichzeitiger Anwendung starken Inhibitoren des UGT2B7-Enzyms (z. B. Diclofenac, Fluconazol, Medroxyprogesteronacetat, Meclofenaminsäure), kann die Exposition mit Nalmefen signifikant ansteigen.
• Behandlung mit UGT-Induktoren (z. B. Dexamethason, Phenobarbital, Rifampicin, Omeprazol) kann zu subtherapeutischen Nalmefen-Konzentrationen führen
• Minderung der Wirksamkeit von Opioid-Agonisten.
• Keine klinisch relevanten pharmakokinetischen Wechselwirkungen mit Alkohol.

Bewertung

Alkoholtherapeutikum mit neuer Indikation und neuem Wirkansatz. Durch das Therapieziel der Trinkmengenreduktion besteht die Möglichkeit, die bisher große Gruppe unbehandelter alkoholabhängiger Patienten (ca. 90%) in einen therapeutischen Prozess zu bringen, der zu einer Reduktion der Folgeschäden, ggf. auch im zweiten Schritt zu einer abstinenzorientierten Therapie führen kann. In wieweit dies gelingt, werden zukünftige Versorgungsdaten zeigen müssen. Eine vergleichende Bewertung mit anderen verfügbaren Alkoholtherapeutika (Acamprosat, Naltrexon) ist gegenwärtig nicht möglich (andere Zulassungsindikation: Aufrechterhaltung der Abstinenz; kein „as needed“ Gebrauch). Inwieweit die partiell agonistische Aktivität von Nalmefen am κ-Rezeptor (Reduktion anxiogener, anhedoner Symptome) einen klinisch relevanten Zusatznutzen gegenüber Naltrexon vermittelt, ist gegenwärtig noch in Diskussion (Butelman et al. 2012). Die verminderte Hepatotoxizität im Vergleich zu Naltrexon ist im Einsatz der Medikation bei alkoholabhängigen Patienten vorteilhaft (Soyka & Rösner 2010).

Aus klinischer Sicht erscheint die trinkmengenreduzierende Behandlung mit Nalmefen keine Alternative für die alkoholabhängigen Patienten, die bisher erfolgreich abstinenzorientiert behandelt werden. Das durch die Zulassung vorgegebene Behandlungskonzept eröffnet aber die Chance, Patienten zu erreichen, die (noch) nicht bereit sind, ein Abstinenzziel anzustreben. Im Sinne eines „stepped care“ kann hier die Trinkmengenreduktion, im ersten Schritt ohne, im zweiten Schritt mit medikamentöser Unterstützung, eine sinnvolle Erweiterung der Therapieoptionen darstellen (Kiefer & Dinter 2013).

Literatur:
• Butelman ER, Yuferov V, Kreek MJ (2012) κ-opioid receptor/dynorphin system: genetic and pharmacotherapeutic implications for addiction. Trends Neurosci 35(10):587-96.
• EMA Produktinformation Selincro:

http://www.ema.europa.eu/docs/de_DE/document_library/EPAR_-_Product_Information/human/002583/WC500140255.pdf

• Kiefer F, Dinter C (2013) Novel treatment approaches targeted at learning and memory. Curr Top Behav Neurosci 13:671-84
• Mann K, Bladström A, Torup L, Gual A, van den Brink W (2013) Extending the treatment options in alcohol dependence: a randomized controlled study of as-needed nalmefene. Biol Psychiatry 73(8):706-13
• Soyka M, Rösner S (2010) Nalmefene for treatment of alcohol dependence. Expert Opin Investig Drugs 19(11):1451-9.

Falk Kiefer, Mannheim

Otto Benkert, Mainz

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