Antikonvulsiva – Aktuelle Studien zum Suizidrisiko August 2010

In unserer News vom 30.04.2008 berichteten wir von Hinweisen der FDA auf ein erhöhtes Suizidrisiko bei der Behandlung mit Antikonvulsiva. Zwischenzeitlich wurden die Hersteller von Antikonvulsiva durch die FDA dazu veranlasst, eine Warnung hinsichtlich des Auftretens suizidaler Ideen und Handlungen mit in die Produktbeschreibung aufzunehmen. Verschiedene Autoren kritisierten seitdem die Vorgehensweise der FDA als vorschnell (Hesdorffer & Kanner, Epilepsia 2009, 50: 978-986; Bell et al., CNS Drugs 2009, 23: 281-292)

 

Aktuell widmeten sich das New England Journal of Medicine im August 2010 mit einem Übersichtsartikel (Arana et al., New Engl J Med 2010, 363: 542) sowie Neurology mit einem Editorial (Mula & Sander, Neurology 2010, 75: 300) und ebenfalls einer Übersichtsarbeit dieser Problematik (Andersohn et al., 2010, 75: 335).

 

Arana et al. untersuchten eine Kohorte von über fünf Millionen Patienten, um eine Assoziation zwischen der Einnahme eines Antikonvulsivums und suizidalen Handlungen aufzuzeigen.

Eingeschlossen wurden Patienten, die entweder an einer Epilepsie, einer Depression oder einer bipolaren Störung litten. Als suizidale Handlungen wurden Suizidversuche sowie vollendete Suizidhandlungen gewertet. Die Inzidenz suizidaler Handlungen pro 100.000 Personenjahre lag bei 15,0 (95 % Konfidenzintervall [KI], 14,6 – 15,5) bei Patienten ohne diagnostizierte Epilepsie, Depression, bipolare Störung oder Antikonvulsivaeinnahme. Sie lag bei 38,2 (95 % KI, 26,3 – 53,7) bei Patienten mit Epilepsie ohne Antikonvulsivaeinnahme und bei 48,2 (95 % KI, 39,4 – 58,5) bei Patienten mit Epilepsie und Antikonvulsivaeinnahme. Bereinigte Analysen zeigten kein erhöhtes Risiko für suizidale Handlungen bei Patienten mit Antikonvulsivaeinnahme bei bestehender Epilepsie (odds ratio [OR] 0,59; KI 0,35 – 0,98) oder bipolarer Störung (OR 0,13; KI 0,35 – 3,61). Bei Antikonvulsivaeinnahme im Rahmen einer depressiven Störung (nicht im Rahmen einer bipolaren Störung) zeigte sich jedoch ein signifikant erhöhtes Risiko (OR 1,65; KI 1,24 – 2,19) für suizidale Handlungen. Mutmaßlich läge dies an einem höher ausgeprägten Schweregrad der Depressionen sowie des durchschnittlich höheren Alters innerhalb dieser Kohorte. Ein ebenso erhöhtes Risiko für suizidale Handlungen zeigte sich bei solchen Patienten, die zwar Antikonvulsiva einnahmen, nicht aber an einer Epilepsie, einer Depression oder an einer bipolaren Störung litten (OR 2,57; KI 1,78 – 3,71). Ursächlich sei hier die mögliche Assoziation mit chronischen Schmerzsyndromen als einem möglichen Indikationsgebiet für den Antikonvulsivaeinsatz.

Aus ihrer Kohortenuntersuchung leiten die Autoren folgende Schlussfolgerung ab:

§    Der Antikonvulsivaeinsatz ist mit einem erhöhten Risiko für suizidale Handlungen verbunden bei Patienten, die an einer Depression leiden. Die Inzidenz suizidaler Handlungen lag hier bei 177,30 pro 100.000 Personenjahre gegenüber 129,06 bei depressiven Patienten, die nicht mit einem Antikonvulsivum behandelt wurden.

§    Der Antikonvulsivaeinsatz ist mit einem erhöhten Risiko für suizidale Handlungen verbunden bei Patienten, die aus einer anderen Indikationsstellung heraus als die hier beschriebenen Indikationen (Epilepsie, Depression oder bipolare Störung) behandelt werden. Sie lag bei 39,07 pro 100.000 Personenjahre gegenüber 15,05 bei Patienten, die kein Antikonvulsivum erhielten.

          Zur letztgenannten Gruppe gehörten aber möglicherweise solche Patienten, die           aufgrund einer chronischen Schmerzproblematik mit einem Antikonvulsivum        behandelt würden und das Vorliegen einer solchen chronischen Erkrankung     bekannterweise mit einem erhöhten Suizidrisiko einhergehe.


Im Gegensatz zur ausgesprochenen FDA-Warnung gehe man davon aus, dass ein erhöhtes Risiko für suizidale Handlungen bei Antikonvulsivaeinnahme im Rahmen einer Epilepsie ebenso wenig wie bei bipolarer Störung bestehe.

 

Andersohn et al. (Andersohn et al., 2010, 75: 335-340) untersuchten den Zusammenhang zwischen einer Antikonvulsivaeinnahme und suizidalen Handlungen anhand der United Kingdom General Practice Research Database (GPRD) in einer Kohorte von 44.300 Patienten, die aufgrund einer Epilepsie mit einem Antikonvulsivum behandelt wurden. In einem Follow-up-Zeitraum von 5,5 Jahren traten 458 Fälle von suizidalen Handlungen auf.
Die verordneten Antikonvulsiva wurden – ohne kritische Reflektion hinsichtlich ihrer Anwendung auf psychiatrischem Fachgebiet – in vier unterschiedliche Gruppen klassifiziert. Neben der Gruppe der Barbiturate wurden konventionelle Antikonvulsiva zu einer Gruppe zusammengefasst. Lamotrigin, Gabapentin, Pregabalin und Oxcarbazepin wurden zu einer Gruppe neuerer Antikonvulsiva mit „niedrigem Potential, depressive Zustände zu erzeugen“ („low potential of causing depression“), zusammengefasst.

Unkommentiert blieb hierbei die belegte Wirksamkeit der Substanzen dieser Gruppe bei ihrem Einsatz auf psychiatrischem Fachgebiet.

Levetiracetam, Tiagabin, Topiramat und Vigabatrin wurden zu einer Gruppe neuerer Antikonvulsiva zusammengefasst, die ein hohes Maß einer depressiogenen Wirkung aufweisen („high potential of causing depression“).

Die Gruppe der mit Levetiracetam, Tiagabin, Topiramat oder Vigabatrin behandelten Patienten zeigte ein deutlich erhöhtes Potential für suizidale Handlungen. Mit einer OR von 3,08 (95 % KI 1,22 – 7,77) zeigte sich ein dreifach erhöhtes Risiko für suizidale Handlungen im Vergleich zu einer medikamentenfreien Vergleichsgruppe.

Barbiturate, konventionelle Antikonvulsiva sowie die Gruppe neuerer Antikonvulsiva um Lamotrigin, Gabapentin, Pregabalin und Oxcarbazepin (OR 0,87; 95 % KI 0,47 – 1,59), waren nicht mit einem erhöhten Risiko für suizidale Handlungen verbunden.

Den Untersuchungen zufolge waren Levetiracetam, Tiagabin, Topiramat oder Vigabatrin aus der Gruppe neuerer Antikonvulsiva mit „high potential of causing depression“ problematisch hinsichtlich des Auftretens von suizidalen Handlungen (Mula & Sander, Drug Saf 2007, 30: 555-567).

 

Klinische Konsequenzen:

Die Auslese der in den hier vorgestellten Arbeiten enthaltenen Informationen hinsichtlich eines neuen Erkenntnisgewinns bei der Anwendung von Antikonvulsiva in Bezug auf die durch die FDA formulierten Hinweise auf ein erhöhtes Suizidrisiko bei der Behandlung mit Antikonvulsiva erscheint schwierig.

Trotz der sehr hohen Patientenzahlen in der Studie von Arana et al. bleibt eine genaue Einteilung der Patienten in klar voneinander trennbare Einzelgruppen intransparent.

Patienten mit Epilepsie, Depression oder bipolare Störung werden zwar von denjenigen Patienten unterschieden, die ein Antikonvulsivum aus einer anderen Indikation heraus bekamen, unklar bleibt aber beispielsweise, inwiefern in der Gruppe der Patienten mit bipolarer Störung unterschiedliche Phasen der Erkrankung bewertet wurden oder ob sich hinter dem Begriff sowohl manische Episoden wie depressive Episoden verbergen. Auch wurde nicht klar, ob die Gruppe der Patienten mit Depressionen ausschließlich unter unipolaren Depressionen litten und wie der Ausprägungsgrad der Erkrankung war.

Die Erkenntnisse der Untersuchung von Andersohn et al. bestätigen auch „nur“ das bisherige Wissen darüber, dass antikonvulsive Substanzen wie Lamotrigin, Gabapentin, Pregabalin und Oxcarbazepin offensichtlich keine negativen Effekte hinsichtlich der Induzierung suizidaler Gedanken oder Handlungen haben.

Dass Levetiracetam, Tiagabin, Topiramat oder Vigabatrin, für die es auf psychiatrischem Fachgebiet keine Zulassung zur Behandlung einer psychischen Störung gibt, mit einem erhöhten Risiko des Auftretens suizidaler Handlungen verbunden zu sein scheinen, schränkt das psychopharmakologische Spektrum bei der Anwendung unterschiedlicher erprobter Antikonvulsiva zur Behandlung psychischer Störungen zunächst nicht ein. Dabei ist allerdings bei off label Indikationen von Topiramat auf suizidale Handlungen zu achten.

 

Unabhängig von dieser Diskussion ist beim Einsatz von Antikonvulsiva sorgfältig auf das Suizidrisiko zu achten.

 

 

Michael Paulzen, Aachen

Gerhard Gründer, Aachen

Otto Benkert, Mainz

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