Atomoxetin – neue Empfehlungen zum Umgang bei Patienten mit erhöhtem Risiko für Blutdruck- und Herzfrequenzanstieg

Atomoxetin ist ein Alpha-Sympathomimetikum und zugelassen zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern und Jugendlichen ab 6 Jahren sowie bei Erwachsenen, wenn die Therapie im Jugendalter begonnen wurde, als Teil eines umfassenden Behandlungsprogramms.
In einem Rote-Hand-Brief vom 07.12.2011 (http://www.bfarm.de/DE/Pharmakovigilanz/risikoinfo/2011/rhb-strattera.html) werden neue Daten des bereits bekannten Risikos für einen Blutdruck- und Herzfrequenzanstieg dargestellt. Eine Analyse aus klinischen Studien mit Atomoxetin (STRATTERA®) durch den Hersteller (Lilly) hat ergeben, dass bei ca. 6–12 % der Kinder und Erwachsenen eine klinisch bedeutsame Veränderung der Herzfrequenz (20 Schläge pro Minute oder mehr) und des Blutdrucks (15–20 mmHg oder mehr) auftrat. 15–32 % der Patienten mit klinisch relevanten Blutdruck- oder Pulsänderungen zeigte einen persistierenden oder zunehmenden Anstieg.
Folgende verschärfte Empfehlungen werden vom Hersteller jetzt vorgegeben:
• Atomoxetin darf nicht bei Patienten mit schwerwiegenden kardiovaskulären oder zerebrovaskulären Erkrankungen angewendet werden, wenn das Auftreten eines klinisch bedeutsamen Blutdruck- oder Herzfrequenz-Anstiegs (zum Beispiel ein Blutdruckanstieg von 15-20 mm Hg oder eine Erhöhung der Herzfrequenz um 20 Schläge pro Minute) eine Verschlechterung des Zustandes erwarten lässt.
• Atomoxetin sollte bei Patienten, bei denen eine Erkrankung zugrunde liegt, die sich durch einen Anstieg der Herzfrequenz bzw. des Blutdrucks verschlechtern könnte, wie z. B. bei Patienten mit Bluthochdruck, Tachykardie oder einer kardiovaskulären oder zerebrovaskulären Erkrankung, mit Vorsicht angewendet werden.
• Es wird empfohlen, dass bei Patienten, die mit Atomoxetin behandelt werden sollen, zuvor durch eine sorgfältige Anamnese sowie eine körperliche Untersuchung das Vorliegen einer kardialen Erkrankung abgeklärt wird. Geben diese initialen Untersuchungen einen Hinweis, dass eine kardiale Erkrankung derzeit besteht oder in der Vorgeschichte aufgetreten ist, dann muss eine weitergehende Beurteilung durch einen Herzspezialisten erfolgen.
• Herzfrequenz und Blutdruck sind bei allen Patienten vor der Behandlung mit Atomoxetin, bei jeder Dosisanpassung und während der Behandlung mindestens alle 6 Monate zu messen und aufzuzeichnen (z. B. in einer graphischen Darstellung), um mögliche klinisch relevante Erhöhungen zu erkennen. Bei Patienten, die während ihrer Behandlung Symptome entwickeln, die auf eine kardiale Erkrankung hindeuten, muss umgehend eine Untersuchung durch einen Herzspezialisten erfolgen.

Auf der oben erwähnten BfArM-Internetseite finden sich nicht nur der Rote-Hand-Brief, sondern auch die Änderungen der Fachinformation, ein Leitfaden für Ärzte und ein Verlaufsbogen zur Dokumentation kardiovaskulärer Veränderungen unter einer ADHS-Medikation.

Die Analyse speziell der Daten von Kindern mit ADHS (n = 8417) der Herstellerfirma Lilly beruhen auf kontrollierten und offenen Studien und zeigen im Wesentlichen die oben erwähnten Veränderungen von Puls und Blutdruck. Insgesamt sind die Daten widersprüchlich, da es auch gepoolte Analysen von pädiatrischen Patienten gibt, die zum Ziel hatten, eine Dosisabhängigkeit im Hinblick auf den Blutdruck und Herzfrequenz zu untersuchen und sich dabei keinerlei signifikante Anstiege für keine der klinisch relevanten Dosierungen fanden (Data on file).

Darüber hinaus wurden kürzlich 2 Studien zu dieser Thematik veröffentlicht, die keine besonderen kardiovaskulären Risiken unter Atomoxetin erkennen lassen. Allerdings war in den beiden hier erwähnten Studien die Anzahl der Patienten, die Methylphenidat oder Amphetamin erhalten haben etwa 10 mal größer als die Gruppe, die Atomoxetin erhalten hatte.
In zwei großen amerikanischen retrospektiven Kohorten-Studien wurde der Zusammenhang zwischen der Einnahme von ADHS-Medikamenten und schwerwiegenden kardialen Ereignissen (Myokardinfarkt, plötzlicher Herztod, Schlaganfall) untersucht.
In einer Studie (Cooper et al. N Engl J Med 2011, 365, 20: 1896) wurden über 1,2 Millionen Kinder und junge Erwachsene zwischen 2 und 24 Jahren über durchschnittlich 2,1 Jahre hinweg untersucht. Es wurde in drei Gruppen unterteilt: keine Einnahme von ADHS-Medikamenten, frühere und aktuelle Einnahme von ADHS-Medikamenten. Die Rate an schwerwiegenden kardialen Ereignissen lag im Durchschnitt bei 3,1 pro 100.000 Patientenjahren, wobei es keinen signifikanten Unterschied zwischen den Gruppen gab. Die Rate für Atomoxetin lag bei 3,41 pro 100.000 Patientenjahren (1/29.330 Patientenjahren). Die Studie ergab keine Hinweise, dass die Einnahme von ADHS-Medikamenten mit einem erhöhten Risiko für schwerwiegende kardiovaskuläre Ereignisse einhergeht.
In der zweiten Studie (Habel et al. JAMA 2011, 306, 24: 2673) wurden über 150.000 Erwachsene zwischen 25 und 64 Jahren, die ADHS-Medikamente (Methylphenidat (45%), Amphetamin (44%), Atomoxetin (8%) und Pemolin (3%)) eingenommen haben mit jeweils zwei gematchten Erwachsenengruppen, die keine ADHS-Medikamente eingenommen haben, im Median über 1,3 Jahre hinweg verglichen. Die aktuelle oder neue Einnahme der ADHS-Medikamente war bei Erwachsenen nicht mit einem erhöhten Risiko für schwerwiegende kardiale Ereignisse im Vergleich mit Erwachsenen, die keine ADHS-Medikamente oder früher ADHS-Medikamente eingenommen haben, verbunden. Die Atomoxetin-Gruppe hatte sogar ein geringeres Risiko für schwerwiegende kardiovaskuläre Ereignisse als die komplette Gruppe mit ADHS-Medikamenten und Kontrollpersonen. Besonders erwähnenswert ist das Gesamtergebnis dieser Studie vor dem Hintergrund, dass die ADHS-Gruppe deutlich häufiger andere Medikamente (z.B. Antidepressiva: 53,4 % vs. 12,6 %, Asthmamedikation: 25,9 % vs. 15,9 %) eingenommen hatte.

Klinische Konsequenzen:
Aus der neuen Fachinformation und dem Rote-Hand-Brief sind folgende Empfehlungen zum Ausschluss von kardialen Risiken abzuleiten:

Eine regelmäßige Aufzeichnung der Herzfrequenz und des Blutdrucks ist bei allen Patienten v.a. vor der Behandlung, bei jeder Dosisanpassung und während der Behandlung (mindestens alle sechs Monate) notwendig.
Bei Patienten mit Hypertonus, Tachykardie sowie kardiovaskulären oder zerebrovaskulären Erkrankungen sollten diese Kontrollen von Puls und Blutdruck engmaschiger sein.
Ein EKG muss, bei Patienten, die noch andere Arzneimittel erhalten, die das QT-Intervall verlängern können oder bei Patienten, die eine positive Familienanamnese für QT-Zeit-Verlängerung haben, häufiger kontrolliert werden.
Atomoxetine sollte bei Patienten mit schwerwiegenden kardiovaskulären oder zerebrovaskulären Erkrankungen und bei Patienten mit einem Long-QT-Syndrom nicht verordnet werden.
In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass Patienten mit einem nicht-funktionalen (poor metaboliser) CYP2D6-Enzym oder bei einer Begleitmedikation mit einem CYP2D6-Inhibitor einem höheren kardialen Risiko ausgesetzt sind.

Diese Vorsichtsmaßnahmen zusammengenommen erfordern vor Beginn einer Behandlung mit Atomoxetin eine EKG-Ableitung und ggf. eine weitergehende kardiale Diagnostik, um Herz-Kreislauf-Erkrankungen sicher auszuschließen und während der Behandlung ein regelmäßiges Monitoring (mindestens alle 6 Monate) des Blutdrucks und der Herzfrequenz mit verpflichtender Aufzeichnung. Eine Begleitmedikation ist sorgfältig auszuwählen.

Philip Heiser, Nordhausen und Freiburg
Otto Benkert, Mainz

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