Einer aktuellen, in der Zeitschrift „Neurology“ publizierten Studie der Arbeitsgruppe von Daniel G. Hackam und Marko Mrkobrada der Western University in London (Kanada) nach sind SSRI mit einem erhöhten Risiko für intrakranielle Blutungen assoziiert [1]. Die Autoren führten zur Untersuchung des Zusammenhangs zwischen intrakraniellen Blutungen und einer Exposition mit SSRI eine systematische Übersicht und Metaanalyse von 16 Beobachtungsstudien (n=506411) durch. Eingeschlossen wurden Beobachtungsstudien mit einer Kontrollgruppe wie beispielsweise Fall-Kontroll-Studien oder Kohortenstudien; unterschieden wurde zwischen intrakraniellen Blutungen im Allgemeinen, hämorrhagischem Schlaganfall (definiert als Kombination aus intrazerebraler Blutung und Subarachnoidalblutung), intrazerebraler Blutung sowie Subarachnoidalblutung. Die Autoren berichten über eine signifikante Assoziation zwischen einer Exposition mit SSRI und intrakraniellen Hämorrhagien im Allgemeinen (RR: 1.51, 95% CI: 1.26-1.81) sowie intrazerebralen Hämorrhagien (RR: 1.42, 95% CI: 1.23-1.65). Für Subarachnoidalblutungen hingegen ergab sich erstaunlicherweise ein Trend für ein reduziertes Risiko in Zusammenhang mit einer SSRI-Exposition (RR: 0.62. 95% CI: 0.38-1.01). In einer Untergruppe von 5 Studien mit Angaben zur Exposition mit oralen Antikoagulanzien (3 Studien zu intrakraniellen Blutungen sowie jeweils 1 Studie zu hämorrhagischem Schlaganfall sowie intrazerebralen Blutungen) ergab sich ferner ein erhöhtes Risiko einer Blutung unter einer kombinierten Exposition mit SSRI und oralen Antikoagulanzien im Vergleich zu einer alleinigen Exposition mit oralen Antikoagulanzien (RR: 1.56, 95% CI: 1.33-1.83).
Das absolute Risiko intrakranieller Blutungen in Zusammenhang mit einer SSRI Exposition wird von den Autoren vor dem Hintergrund einer geschätzten Inzidenzrate intrakranieller Blutungen von 24.6 pro 100.000 Personenjahren jedoch als gering eingestuft: man müsse anhand der Ergebnisse mit einem zusätzlichen Ereignis einer intrakraniellen Blutung pro 10.000 Personen, die über ein Jahr mit einem SSRI behandelt würden, rechnen [1]. Im begleitenden Editorial der Zeitschrift ergänzen McGrath & O’Donnell, dass eine Beachtung aller konfundierenden Faktoren den Zusammenhang zwischen SSRI-Exposition und intrakraniellen Blutungen vermutlich weiter schwächen würde [2]. So sei in den einzelnen, in die aktuelle Metaanalyse eingegangenen Studien mehrheitlich nicht für gemeinsame Risikofaktoren für Depressionen und intrakranielle Hämorrhagien wie Mikroangiopathie, Diabetes mellitus, Nikotin und Alkoholkonsum kontrolliert worden [2]. Zu bedenken ist ferner der konfundierende Faktor der zugrundeliegenden Depression als Grund für die Verschreibung von Antidepressiva, welche selbst als Risikofaktor für cerebrovaskuläre Ereignisse gilt.
Klinische Konsequenzen: Insgesamt ist die Studienlage zum möglichen Zusammenhang zwischen Antidepressiva und intrakraniellen Blutungen weiterhin unklar. Während manche Studien keinen Zusammenhang aufzeigen konnten [3-7], fanden andere ein erhöhtes Risiko [8-10]. Eine Gabe von Antidepressiva nach Schlaganfall zeigte in Studien bislang positive Wirkungen auf depressive Symptome mit Reduktion der Mortalität und teils auch positiver Beeinflussung anderer Teilbereiche wie kognitive Funktionen und den Rehabilitationsverlauf (siehe Kompendium, 9. Auflage, Kap. 1.4.1); in keiner RCT zum Einsatz von SSRI bei Patienten nach Schlaganfall zeigten sich signifikante cerebrovaskuläre unerwünschte Ereignisse [11-12]. Zu bedenken ist bei der Frage nach einem möglicherweise erhöhten Risiko für intrakranielle Blutungen unter SSRI, dass auch unter Annahme eines erhöhten Risikos die absolute Risikoerhöhung durch SSRI-Exposition im Allgemeinen als gering einzuschätzen ist. Auch ist unklar, ob eine mögliche Risikoerhöhung tatsächlich nur für die Klasse der SSRI zutrifft und ein differentieller Zusammenhang zwischen der Affinität zum Serotonintransporter und dem intrakraniellen Blutungsrisiko besteht [6, 8, 10, 13].
Bei Patienten mit einem erhöhten Risiko für intrakranielle Blutungen wie beispielsweise Patienten mit einer intrakraniellen Blutung in der Vorgeschichte, Patienten unter langfristiger oraler Antikoagulation oder mit cerebraler Mikroangiopathie kann unter Annahme eines differentiellen Risikos in Abhängigkeit von der Affinität zum Serotonintransporter [13] und unter Berücksichtigung des Nebenwirkungsprofils der einzelnen Substanzen geprüft werden, ob nicht die Gabe eines Antidepressivums mit geringer(er) oder fehlender relevanter Affinität zum Serotonintransporter (z.B. überwiegende oder selektive NA-Wiederaufnahmehemmer, TZA mit überwiegender NA-Wiederaufnahmehemmung, Mirtazapin oder Bupropion) vorzuziehen ist (siehe Kompendium Kap. 1.6., Alteration der Thrombozytenfunktion). Stellt eine Behandlung mit einem Antidepressivum mit geringer(er) oder fehlender Affinität zum Serotonintransporter unter Abwägung der Vor- und Nachteile im Einzelfall z.B. aufgrund von Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme (Mirtazapin) oder erhöhter cerebraler Anfallsbereitschaft (Bupropion) keine günstige Alternative dar, sollte das beschriebene, möglicherweise bestehende erhöhte Risiko für intrakranielle Blutungen unter SSRI bei behandlungsbedürftigen Depressionen einer antidepressiven Behandlung auch mit einem SSRI nicht entgegen stehen.
Literatur:
[1] Hackam DG, Mrkobrada M. Selective serotonin reuptake inhibitors and brain hemorrhage: A meta-analysis. Neurology. 2012 30;79(18):1862-5. doi: 10.1212/WNL.0b013e318271f848.
[2] McGrath ER, O’Donnell MJ. Estimating treatment effects in observational studies. Neurology. 2012 30;79(18):1844-5. doi: 10.1212/WNL.0b013e318271f8b6.
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[13] Castro VM, Gallagher PJ, Clements CC, Murphy SN, Gainer VS, Fava M, Weilburg JB, Churchill SE, Kohane IS, Iosifescu DV, Smoller JW, Perlis RH. Incident user cohort study of risk for gastrointestinal bleed and stroke in individuals with major depressive disorder treated with antidepressants. BMJ Open. 2012, 30;2(2):e000544.
Francesca Regen, Berlin
Otto Benkert, Mainz