Die Frage, ob Antidepressiva das Suizidrisiko erhöhen können, wird in der Literatur weiterhin intensiv diskutiert. Wie in unseren letzten News zu diesem Thema vom 13.04.07 und 16.05.07 berichtet, ergab sich in einer Metaanalyse der amerikanische Zulassungsbehörde FDA zum Suizidrisiko unter Antidepressiva eine Altersabhängigkeit des Zusammenhangs zwischen einer antidepressiven Behandlung und Suizidideationen und suizidalem Verhalten (Stone M et al., BMJ. 2009;339:b2880). Dies führte zu einer Erweiterung des für Kinder und Jugendliche bereits zuvor ausgesprochenen Warnhinweises zu einem möglichen Zusammenhang zwischen Antidepressiva und Suizidalität auf junge Erwachsene im Alter von 18–24 Jahren (News vom 16.05.2007). In Bezug auf das Risiko eines Suizidversuchs während verschiedener Phasen einer Behandlung mit Antidepressiva fand sich in einer retrospektiven Fall-Kontroll-Studie bei insgesamt signifikant protektivem Effekt einer Behandlung mit einem Antidepressivum im Verlauf der ersten 55 Tage der Behandlung ein signifikant erhöhtes Risiko eines Suizidversuchs. Ebenso ergab sich ein signifikant erhöhtes Risiko eines Suizidversuchs in Zusammenhang mit Dosisänderungen, im Verlauf der ersten 2 Wochen nach Absetzen eines Antidepressivums sowie im Anschluss an eine frühzeitig beendete antidepressive Behandlung (Valuck RJ et al., J Clin Psychiatry. 2009;70(8):1069-77; News vom 21.9.2009). Ebenfalls eine Altersabhängigkeit für den Zusammenhang zwischen einer antidepressiven Behandlung und Suizidversuchen oder Suiziden ergab sich in einer Metaanalyse von 8 Beobachtungsstudien an >200000 depressiven Patienten, in der sich für Erwachsene und ältere Patienten ein um 40% und 50% reduziertes Risiko eines Suizidversuchs und eines Suizids unter SSRI und Venlafaxin zeigte. Für Kinder und Jugendliche hingegen ergab sich hier ein erhöhtes Risiko (Barbui C et al.,CMAJ. 2009;180(3):291-7).
Andere Studien hingegen ergaben auch für Kinder und Jugendliche kein erhöhtes Risiko eines Suizidversuchs oder eines Suizids. In einer kürzlich publizierten longitudinalen Kohortenstudie an 757 depressiven Patienten ergab sich unter Antidepressiva – trotz einer erhöhten Wahrscheinlichkeit einer Behandlung mit Antidepressiva bei Vorliegen von schweren depressiven Episoden – altersunabhängig eine Reduktion suizidalen Verhaltens über einen Beobachtungszeitraum von bis zu 27 Jahren (Leon AC et al., J Clin Psychiatry. 2011;72(5):580-6). Auch fand sich in einer aktuellen Re-Analyse aller vorliegenden RCT zu Fluoxetin und Venlafaxin in keiner Altersgruppe ein Anhalt für ein erhöhtes Suizidrisiko. Es zeigte sich vermittelt durch eine Besserung depressiver Symptome eine Reduktion des Suizidrisikos für Erwachsene und ältere Patienten unter Medikation (Fluoxetin und Venlafaxin) im Vergleich zu Plazebo. Für Kinder und Jugendliche fand sich unter Fluoxetin bei Wirksamkeit in der Reduktion depressiver Symptome keine Zunahme, aber auch keine Abnahme des Suizidrisikos (Gibbons RD et al., Arch Gen Psychiatry 2012; published online Feb 6, doi:10.1001/archgenpsychiatry.2011.2048).
Klinische Konsequenzen:
Wie bereits in unseren vorherigen Stellungnahmen dargelegt, geht eine Behandlung depressiver Episoden mit Antidepressiva bei Erwachsenen insgesamt mit einem protektiven Effekt bezüglich Suizidideationen und/oder suizidalem Verhalten einher. Unbehandelt depressive Patienten tragen ein höheres Risiko für Suizidalität als jene unter einer antidepressiven Medikation. Allerdings kann unter Antidepressiva während der ersten Behandlungswochen besonders bei gehemmt-depressiven Patienten der Antrieb gesteigert sein, ohne dass die Stimmung bereits aufgehellt ist. Dies sowie eine zu Beginn der Behandlung möglicherweise zunächst eintretende Symptomverschlechterung mit Zunahme von Angst, innerer Unruhe und Schlafstörungen birgt ein Risiko erhöhter Suizidalität in sich.
Unsere bisherige Empfehlung gilt unverändert: Patienten sollten insbesondere zu Beginn einer Behandlung mit Antidepressiva, aber auch in deren Verlauf (nach einer frühzeitig beendeten Therapie, bei Dosisänderungen sowie bei Absetzen) insbesondere bei Vorliegen eines hohen Risikos für suizidales Verhalten (suizidales Verhalten in der Vorgeschichte oder Suizidideationen zu Beginn der Behandlung) engmaschig überwacht werden. Dies gilt im Besonderen für Kinder und Jugendliche und für die Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen.
Francesca Regen, Berlin
Otto Benkert, Mainz