SSRI und SNRI (Venlafaxin): Blutungsrisiko unter Antidepressiva mit (selektiver) Hemmung der Serotoninwiederaufnahme

Auf das Risiko des Auftretens einer verlängerten Blutungszeit und/oder Anzeichen einer Blutung (z.B. Ekchymose, gynäkologische Blutungen, gastrointestinale Blutungen und andere Haut oder Schleimhautblutungen) aufgrund einer Thrombozytenfunktionsstörung mit verminderter Aggregationsfähigkeit bei herabgesetztem Serotoningehalt unter Antidepressiva mit (selektiver) Hemmung der Serotoninwiederaufnahme insbesondere in Kombination mit Antikoagulantien und Substanzen mit Wirkung auf die Thrombozytenfunktion (z. B. Acetylsalicylsäure oder nichtsteroidale Antiphlogistika) wird im Kompendium hingewiesen (Kap. 1.6).

Insbesondere das Risiko des Auftretens gastrointestinaler Blutungen unter SSRI bzw. unter Antidepressiva mit Hemmung der Rückaufnahme von Serotonin wird dabei noch kontrovers diskutiert (1). Auch wenn in den laufenden Diskussionen um ein erhöhtes Blutungsrisiko oftmals die Gruppe der SSRI und jetzt auch der SSNRI im Vordergrund steht, kann im Hinblick auf dem der Störung der Thrombozytenfunktion zugrunde liegenden Pathomechanismus und der aktuellen Studienlage jedoch von einem Gruppeneffekt ausgegangen werden, der alle Substanzen mit einer relevanten Hemmung der Serotoninwiederaufnahme betrifft. Nachfolgend werden aktuelle Studienergebnisse zum Risiko gastrointestinaler Blutungen unter SSRI und Venlafaxin (2, 3), zum Risiko gastrointestinaler Blutungen unter SSRI und Venlafaxin in Kombination mit Substanzen mit Wirkung auf die Thrombozytenfunktion (2, 3) sowie zum Blutungsrisiko bei einer kombinierten Behandlung mit oralen Antikoagulantien (4) vorgestellt.

In einer kürzlich publizierten, retrospektiven Fall-Kontroll-Studie zum Risiko gastrointestinaler Blutungen unter Antidepressiva (2) fand sich anhand von 1321 Fällen und 10000 Kontrollen ein mit einer OR von 1,8 erhöhtes Risiko gastrointestinaler Blutungen unter SSRI und SSNRI (hier Venlafaxin). Unter gleichzeitiger Einnahme von nichtsteroidalen Antiphlogistika (NSAID; OR bei alleiniger Gabe: 2,8) oder Kortikosteroiden zeigte sich eine überadditive Risikosteigerung (OR: 4,8 bzw. 4,0), nicht so aber bei gleichzeitiger Einnahme von Thrombozytenaggregationshemmern oder oralen Antikoagulanzien. Eine Risikoreduktion für das Auftreten gastrointestinaler Blutungen unter SSRI und Venlafaxin fand sich bei einer gleichzeitigen Einnahme von Antazida (Protonenpumpenhemmer oder H2-Blocker) (OR 1,4 vs. 2,0). Besonders deutlich zeigte sich diese Risikoreduktion in Bezug auf das Risiko gastrointestinaler Blutungen bei gleichzeitiger Gabe von SSRI bzw. Venlafaxin und NSAID (OR 1,1 vs. 9,1) sowie Thrombozytenaggregationshemmern (OR 0,8 vs. 4,7).
Die Autoren schließen aus ihren Ergebnissen, dass das Risiko gastrointestinaler Blutungen unter einer Behandlung mit SSRI oder SSNRI insgesamt gering ist: Bei der Behandlung von etwa 2000 Patienten mit einem SSRI oder SSNRI könne pro Jahr 1 Fall einer gastrointestinalen Blutung auf diese Behandlung zurückgeführt werden. Allerdings steige das Risiko bei einer kombinierten Behandlung mit NSAID oder Thrombozytenaggregationshemmern überadditiv an; in diesem Fall sollte durch die Kombination mit Antazida eine Risikoreduktion erfolgen.

Im Gegensatz zur oben genannten Studie fand sich in einer ebenfalls kürzlich publizierten Fall-Kontroll-Studie anhand von 2783 Fällen und 7058 Kontrollen (3) kein signifikant erhöhtes Risiko gastrointestinaler Blutungen unter (selektiven) Serotoninwiederaufnahmehemmern sowie keine Risikosteigerung bei einer Kombination (selektiver) Serotoninwiederaufnahmehemmer mit NSAID.

Bezüglich des Blutungsrisikos bei der Kombination von SSRI und oralen Antikoagulanzien fand sich in einer aktuellen Fall-Kontroll-Studie (4) bei Kombination von oralen Antikoagulanzien mit SSRI ein signifikant erhöhtes Risiko für Blutungen außerhalb des Gastrointestinaltrakts (OR: 1,7), nicht aber für gastrointestinale Blutun-gen (OR: 0,8). Die Risikosteigerung für Blutungen außerhalb des Gastrointestinaltrakts bei einer Kombinationsbehandlung war dabei für SSRI vergleichbar derjenigen für NSAID (OR: 1,7). Für eine Kombinationsbehandlung mit NSAID ergab sich zusätzlich auch ein erhöhtes Risiko gastrointestinaler Blutungen. Für Antidepressiva ohne Affinität zum Serotonintransporter (hier Mirtazapin und Nortriptylin) zeigte sich kein erhöhtes Blutungsrisiko.

Klinische Konsequenzen:

  • ­Antidepressiva mit (selektiver) Hemmung der Serotoninwiederaufnahme gehen mit einem erhöhten Risiko für gastrointestinale Blutungen vergleichbar demjenigen unter einer Behandlung mit Thrombozytenaggregationshemmern einher.
  • Das Risiko für gastrointestinale Blutungen steigt bei der gleichzeitigen Verordnung von gastrotoxischen und/oder die Thrombozytenfunktion beeinflussenden Substanzen überadditiv an.
  • Eine deutliche Risikoreduktion für gastrointestinale Blutungen scheint durch die gleichzeitige Gabe von Antazida erreicht werden zu können.
  • ­Auch wenn eine Risikoreduktion durch Antazida zur Zeit noch wenig belegt ist, sollte aufgrund der Studienergebnisse die Gabe eines Antazidums insbesondere bei einer gleichzeitigen Einnahme von nichtsteroidalen Antiphlogistika, Kortikosteroiden und Thrombozytenaggregationshemmern oder bei Bestehen anderer Risikofaktoren für das Auftreten gastrointestinaler Blutungen erwogen werden.
  • ­Antidepressiva mit (selektiver) Hemmung der Serotoninwiederaufnahme gehen bei einer gleichzeitigen Verordnung mit oralen Antikoagulantien mit einem erhöhten Risiko für Blutungen außerhalb des Gastrointestinaltrakts einher. Die Erhöhung des Blutungsrisikos ist vergleichbar derjenigen einer gleichzeitigen Verordnung oraler Antikoagulantien mit NSAID oder Thrombo-zytenaggregationshemmern.
  • ­Wenn neben Antidepressiva NSAID, Thrombozytenaggregationshemmer oder orale Antikoagulantien verordnet werden müssen, ist zu erwägen, ob nicht Substanzen mit fehlender relevanter Affinität zum Serotonintransporter (überwiegende oder selektive NA-Rückaufnahme-Inhibitoren, TZA mit überwiegender NA-Rückaufnahmehemmung, Mirtazapin oder Bupropion) vorzuziehen sind.

Francesca Regen, Berlin
Ion Anghelescu, Berlin
Otto Benkert, Mainz

(1) Yuan Y, Tsoi K, Hunt RH. Selective serotonin reuptake inhibitors and risk of upper GI bleeding: confusion or confounding? Am J Med. 2006 Sep;119(9):719-27.

(2) de Abajo FJ, García-Rodríguez LA. Risk of upper gastrointestinal tract bleeding associated with selective serotonin reuptake inhibitors and venlafaxine therapy: interaction with nonsteroidal anti-inflammatory drugs and effect of acid-suppressing agents. Arch Gen Psychiatry, 2008 Jul;65(7):795-803

(3) Vidal X. Ibánez L, Vendrell L. Conforti A, Laporte JR; Spanish-Italian Collaborative Group for the Epidemiology of Gastrointestinal Bleeding. Risk of upper gastrointestinal bleeding and the degree of serotonin reuptake inhibition by antidepressants: a case-control study. Drug Saf. 2008;31(2):159-68

(4) Schalekamp T,Klungel OH, Souverein PC, de Boer A. Increasing bleeding risk with concurrent use of selective serotonin reuptake inhibitors and coumarins. Arch Intern Med. 2008 Jan 28;168(2):180-5

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